Miroslav Krleža (1893 - 1981) war ein produktiver Schreiber. Im Laufe von 66 Schaffensjahren verfasste er über 50 Monographien vieler Genres, von Poesie und Polemik über Romane und Dramen bis zu Reiseerzählungen und politischer Publizistik.
Als eines der wichtigsten Werke gilt die Sammlung von Erzählungen Der kroatische Gott Mars (Hrvatski bog Mars) 1922 (erweiterte Ausgabe 1933). In diesem Werk, welches in einer Serie zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kriegen spielender, oberflächlich betrachtet unzusammenhängender Fragmente die Tragödie des einfachen Volkes beschreibt, das für die Ziele der Mächtigen, noch dazu fremder Mächtiger, in den Tod geschickt wird, handelt sich um eines der eindrucksvollsten Antikriegswerke der europäischen Literatur. Von der Intention, streckenweise auch stilistisch, ist es mit den Letzten Tagen der Menschheit Karl Kraus' vergleichbar, mit welchem Krleža auch sonst einiges verbindet.
Graf Maximilian Axelrode, Komtur des Souveränen Malteserordens, wurde bereits in seinem 14. Lebensjahr in vollständiger Gala-Uniform mit silbernem Kreuz zum Chevalier de Justice der Johanniter ernannt. Anstelle der sechzehn ritterlichen und adeligen Vorfahren aus den Linien seines Herrn Vaters und seiner Frau Mutter, einer hochwohlgeborenen Fürstin, die notwendig sind, um den Rang eines hohen Würdenträgers des hohen Malteserordens bekleiden zu können, brachte es Graf Maximilian Axelrode in seinem Stammbaun auf achtundzwanzig Federbüsche und Helme, unter denen blaues Blut wallte, und so war es ein Ereignis ersten Ranges, das seinesgleichen auf Erden suchte, als das Großpriorat des Souveränen Malteserordens der Ka- binettskanzlei Seiner Majestät die kostbaren Urkunden mit goldenen Siegeln zur hohen und höchsten „Imprimatur“ sandte.
Graf Maximilian Axelrode hatte zeitlebens nur einen einzigen Traum: für seine hohe Malteserdevise – Pro Fide – das blanke Schwert zu zücken, sich in seinen schwarzen Ordensmantel mit den schwer herabfallenden Falten zu hüllen und sich heiteren und mutigen Gemüts in den Tod zu stürzen. So vergoß er bei seiner ersten Reise nach Jerusalem auf dem Marmor von Santa Maria Latina bittere Tränen, traurig darüber, daß sei- nen edlen Knochen das große Glück, hier vor achthundert Jahren gemeinsam mit denen des großen Gottfried von Bouillon verscharrt zu werden, nicht zuteil geworden war, und wenn dies schon nicht möglich gewesen war, so hätte er zumindest dreihundert Jahre später geboren worden sein wollen, zu jener Zeit, als Kanonen auf Rhodos und Malta donnerten. Aber nein! Er wurde zu einer erbärmlichen und dummen Zeit in die Welt gesetzt, in der die edlen Villiers de l’Isle-Adams zu sozialistischen Agitatoren wurden, die den Pöbel zum Ersten Mai auf die Straße riefen, und in der das größte militärische Ereignis das eine oder andere Manöver war, bei dem mit Platzpatronen geschossen wurde, und auch das nur spärlich, da irgendein Finanzminister und irgendwelche „bescheuerten“ Parlamente riefen, daß die Armee zuviel kostete. Pfui, dieses idiotische Zeitalter der Dampflokomotiven, in dem alles auf Schienen gezwängt wurde, und der sogenannten sozialen, ja geradezu sozialistischen Demokratie, in der sich die edlen Malteserritter in Hotels versammelten, mit bürgerlichen Melonen auf den Köpfen, ja sogar Duelle waren per Gesetz abgeschafft worden. Graf Maximilian Axelrode trauerte so volle dreiundsechzig Jahre vergebens, bis zu jenem Morgen, an dem er aufwachte und dachte, er würde träumen. Sein Lakai übergab ihm eine Depesche vom Großpriorat des hohen Ordens, in der die Mobilmachung verkündet wurde und außerdem zu lesen war, daß der Souveräne Malteserorden entsprechend seiner ehrwürdigen Tradition die Fahne gemäß der Devise „Pro Fide“ hochhalten und irgendwo draußen in der kaiserlichen Etappe seine Zelte aufschlagen und den Spitaldienst organisieren werde. So wurde Graf Maximilian Axelrode zum Leiter eines großen Malteserspitals, das aus zweiundvierzig großen Holzbaracken, einer eigenen Stromerzeugung, einer ganzen Kompanie von Rotkreuz - Schwestern und so weiter und so weiter bestand. Die Heere bewegten sich erst hundert Kilometer ostwärts und dann zweihundert Kilometer gen Westen und darauf wieder nach Osten, von einem Kriegsschauplatz zum anderen, so war der Krieg, und darum reiste Graf Axelrode mit seinem Malteserzirkus von Ost nach West, von Stanislau bis Krakau und zurück, volle zwei Jahre lang, und nun war August, Anno sechzehn, die Hitze stieg auf 49°C, und die Situation war angespannt und ernst.
Das Spital war voll belegt mit anderthalbtausend Patientenschädeln, und alles deutete darauf hin, daß der Russe die Eisenbahnlinien links und rechts abschneiden und daß der Herr Graf, der große Maltesermeister, in zwei Wochen in Moskau sein würde. Gegen Mittag kam eine Depesche, daß der Russe tatsächlich die Frontlinie im Norden zwischen zwei Bahnhöfe verschoben habe, das Spital aber solle bleiben, denn der Gegenangriff laufe bereits an. Daß der Russe die Linie im Norden nach vorne verschoben hatte, bedeutete, daß alle Transporte nur Richtung Süden gehen konnten, und so kam es natürlich zu einem Zusammenstoß (zweiundsiebzig Tote und x Verwundete), und es führte dazu, daß kein Zug mehr Proviant brachte, so daß die Verwundeten schon den fünften Tag in Folge nach Wasser schrien und (bitte lachen Sie nicht, es stimmt wirklich!) mit Pillen gegen Würmer gefüttert wurden, und alle Bahnhöfe auf der Linie kopflos geworden waren, und so mußte Graf Axelrode 500 Patienten mehr aufnehmen, als er überhaupt Platz hatte. Ausgerechnet jener Tag war der heißeste Tag des ganzen Sommers, die Sonne drückte mit ihrem flammenden Ball förmlich auf die Erde, und so schien es, als hätte jemand einen glühenden Mühlstein auf die weißen Holzbaracken geworfen und als stünde alles in Flammen. Die Bretter bogen sich und barsten vor Dürre, der Putz blätterte von den Wänden wie die Haut eines Greises, und die grüne Ackerwinde und die Tulpen in den Blumenrondellen welkten, verblüht, verfault und zertreten.
In der Gruppe der neu eingetroffenen fünfhundert Verwundeten, die Graf Axelrode über seine Aufnahmekapazität hinaus unterbringen mußte, befand sich auch Vidović, ein Student, und seine Lunge war durchschossen, so daß er blutete. Nirgendwo sonst kann ein Mensch sich derartig dreckig machen wie an der Front, aber als man Vidović, schmutzig wie nur Patienten aus den Viehwaggontransporten im August es sein können, in das große Dampfbad trug, da schaffte er es noch, angewidert zu sein.
Wenn Sie eine derart elende und nervöse Figur wie Vidović aus einer bestimmten europäischen Lebenswelt in jenes Bad verpflanzen, ist es höchst wahrscheinlich, daß ein solcher Vidović Krämpfe bekommt und sich übergibt. Aber nach alldem, was er gestern und heute durchgemacht hatte, nach jenem Brand auf dem Bahnhof in der vergangenen Nacht, als die Benzinkanister einer nach dem anderen explodierten, und nach jenen Pillen gegen Würmer, als tausendzweihundert Kehlen nach Wasser schrien, ohne daß es welches gab, und nach jenem versauten Waggon übergab sich Vidović im Dampf des Bades nicht, aber es widerte ihn dennoch an.
In dem Becken blubberte stinkiges, gelbes Wasser, es schäumte grau-grüne Seifenlauge darauf, und es schwammen blutige Verbände und Watte darin herum. Eitrige Watte. Es dampfte das Wasser und stank nach Schlamm und Lehm, es rauschten die Duschen, und im dichten Dunst waren schwarze Schatten zu sehen, die im Nebel hin und her liefen, und die Gesichter der Menschen waren aufgedunsen und blutverschmiert, und irgendwo surrte in der Ferne ein Dynamo, und es war Mittag im August. Hier starb unter der Dusche ein Mensch, dort winselte ein anderer, die Ventilatoren summten wie unsichtbare Insekten, und die Russen in ihren khakifarbenen Hemden trugen neues verwundetes Menschenmaterial wie Säcke heran, und die Schwestern und die Verwundeten und die Ärzte, alle schrien, alle rannten, alle verloren den Verstand.
Man badete Vidović in der schlammigen und blutigen Hölle und trug ihn in die Baracke „Fünf B“, die den Eingeweiden eines riesigen Lastkahns ähnelte. Mit erbarmungsloser protestantischer Pedanterie standen dort – präzise aufgestellt – sechzig Betten, auf jedem ein Körper und über jedem Körper ein Schildchen, damit klar war, wie es um diesen Körper stand. Der Lastkahn teilte sich auf in drei Gruppen. Die erste Gruppe: Knochenbrüche. (Die Knochen ragten hervor wie Späne. Tagsüber lagen die Menschen stumm. Nur wenn die Nacht hereinbrach, meldeten sich die Verwundeten mit lautlosen Golgatha-Stimmen.) Die zweite Gruppe: die Amputierten. (Arm oder Bein oder Arm und Bein. Die Wunden wurden nicht verbunden, sondern trockneten unter Gazetüchern wie geräucherte Fleischwaren.) Die dritte Gruppe, hinter dem Eingang links: der Cuvaks. Dieser Zuwachs war in der Fünf B nur auf Durchreise – vom Bad in die Leichenhalle. Und wenn einer der dritten Gruppe zugeordnet wurde, dann wußte die Baracke Fünf B, wie die Dinge standen, ein neuer Todeskanditat, der Zuwachs!
Als man den verwundeten Vidović in die Baracke trug und auf Bett Nummer Acht legte, spuckte ein Ungar verächtlich, ein Riese aus der ersten Gruppe (Knochenbrüche), und zeichnete mit seinem Finger ein Kreuz in die Luft:
– No hát, Istenem! Den hätte man direkt in die Leichenhalle bringen können. Servus!
– Die neue Nummer Acht ist gekommen! Hey, Jungs!
– Nummer Acht! Nummer Acht!
Die Neuigkeit verbreitete sich in der Baracke, und viele Köpfe reckten sich, um die neue Nummer Acht zu sehen. In der Tat! Sie alle hatte das Leben gründlich gebeutelt und ausbluten lassen! Um es klarzustellen, auch wenn der Mensch keine Beine mehr hatte, war er immer noch keine Nummer Acht! Er war Nummer Einundzwanzig! Oder Nummer Fünfzehn!
– Ich habe keine Arme mehr! Ja! Auch ein Knochen ist gebrochen! Ja! Aber ich lebe! Herr Gott noch mal! Ich lebe! Und wenn die Russen morgen den schwarzen Sarg hereintragen und die neue Nummer Acht hineinlegen, dann werde ich in Ruhe meine Pfeife stopfen und die Fliegen beobachten, wie sie an der Gelatine kleben und Milch trinken! Immerhin noch Leben! Nicht wie das Schicksal von Nummer Acht!
Schon den vierten Tag in Folge wechselte die Nummer Acht! Noch heute morgen hatten die russischen Sklaven einen ihrer Landsmänner herausgetragen. Sein Gedärm war zerrissen gewesen, und er hatte zwei Tage und Nächte geschrien. Vor dem Russen hatte da ein freundlicher Wiener gelegen, und nun kam Vidović.
In Nummer Sieben, links von Vidović, lag ein sibirischer Mongole mit einer Kugel im Kopf, und schon den dritten Tag schrie er in Agonie. Er rief etwas, irgendwelche harten Vokale, aber niemand verstand ihn, und alle dachten, er sei schon hinüber, doch er begann immer wieder von neuem sich herumzuwerfen und zu krümmen, so daß durch den Verband am Kopf eine Spur roten, heißen Blutes drang. In Nummer Neun, rechts, lag ein junger Pán, ein Slowake, mit zerschossener Kehle im Sterben. Seine Luftröhre war durchtrennt, und er atmete über eine Glaskanüle, so daß man deutlich hörte, wie im Röhrchen schaumiger Schleim, Eiter und Lymphe gurgelten.
Und so begann die Baracke Fünf B auf Vidovićs Kopf Wetten abzuschließen, überzeugt, er werde es nicht bis morgen durchhalten.
– Ich kenne unsern Doktor. Wenn er dich nicht sofort unter’m Messer haben will, dann Amen!
– Stimmt nicht! Er würde ihn nicht bis morgen hier lassen, wenn es so wäre! Er ist noch jung!
– Das Onkelchen aus Wien hat noch Reis gegessen und gelacht! Und wir sind sofort unter’s Messer gekommen.
– Also, was ist jetzt? Eine Flasche Schwarzen? Bis morgen früh?
– Abgemacht! Eine Flasche Schwarzen!
Und so brach die Augustnacht an.
Große Sterne, ausladend und hell leuchtend, gingen auf, und das mächtige, dunkelblaue Firmament bedeckte das ganze Tal samt Axelrodes Malteserspital wie eine Kristallschüssel, so daß sich Tausende und Abertausende Tonnen heißer Gase über die Baracke Fünf B legten, und es ging nirgendwo eine Brise, nicht mal ein lauer Windhauch. Die Fliegen in der Baracke waren jetzt eingeschlafen und summten nicht mehr, und dort irgendwo in der Mitte dieses perversen Kahns voller Menschenfleisch, dort brannte eine grüne Lampe, und alles schwamm im Halbdunkel. Dunkel, Dunkel, Halbdunkel und Schmerz, unsagbarer Schmerz, der sich tagsüber versteckt hielt, nun atmete er durch alle Poren und pochte mit jedem Herzschlag. Nun spürte man jede Wunde und die kleinsten durchtrennten Knochen, nun erschütterte ein Erdbeben die Nerven und brachte Stimmen aus dem tiefsten Inneren des Menschen hervor, wie ein Vulkan seine Lava. Der Mensch preßte die Zähne zusammen, bibberte schweißüberströmt, ihm trat Schaum vor den Mund und er biß sich auf Zunge und Lippen, und plötzlich riß der Unterkiefer auf, und das Gesicht schnitt eine animalische Grimasse, und die Stimme schrie vom Boden der Eingeweide herauf, wie aus einem Brunnenloch.
– Mamma mia, mamma mia! – jammerte jemand von diesem Boden her auf italienisch.
– Gospodi, Gospodi, Gospodi! – stöhnte der Russe mit der Kugel in den Därmen. Und dann wieder Ruhe, grüne Ruhe, Halbdunkel.
Erschöpft vom Blutverlust schlief Vidović den ganzen Nachmittag, und jetzt wachte er auf und wußte nicht, wo er war und was geschehen war und wie er hierher geraten war. Er hörte menschliche Stimmen, die stöhnten, und das Sieden in seinen Wunden hatte sich beruhigt, als wäre die Glut erloschen, und dann fand der ausgezehrte Vidović mit Mühe einen scheinbar etwas kühleren Ort auf dem Kissen. Schon wieder verklebten seine brennenden Lider, und es ergoß sich eine taube und schwere Stille über sie, und der Durst verflüchtigte sich irgendwohin, und die Baracke begann schon, sich in angenehmes Schwarz aufzulösen und zu verschwimmen, als wieder ein tierischer Aufschrei des fleischgewordenen Schmerzes die Baracke durchdrang, so daß diese Stimme auf einmal das ganze Schlafgebäude zerschlug, das so mühsam irgendwo am kühleren Rand des Kissens entstanden war, und alles stürzte in einem einzigen Moment zusammen.
Und so die ganze Nacht immer wieder.
– Oh, nur fünf Minuten! Nur eine Minute Schlaf.
Die Nacht war bereits vorangeschritten, denn ein klares Licht floß durch die grünen Gazevorhänge. Draußen riefen Wachen, und eine Ackerwinde, die an einer Kordel emporkletterte, schien in der Morgenbrise zu erzittern. Die kleinen Schmetterlinge umkreisten die Nachtlampe und flatterten mit den Flügeln.
– Wie spät ist es?
Es gab keine Zeit! Es gab gar nichts mehr! Nur noch Schmerz.
– Mamma mia! Mamma mia! Gospodi! Gospodi!
– Ach könnte ich doch nur für eine Minute einschlafen! Nur eine Sekunde!
– Gospodi!
Am nächsten Morgen begann die Situation sich nachhaltig zu verändern. Der Russe rückte am frühen Morgen im Süden vor und schnitt so die letzte kaiserlich-königliche Bahnverbindung ab, so daß die Züge zurückzukehren begannen. Man erteilte den Lokomotivführern einen Befehl, und die Lokomotiven flogen wie Spielzeuge in die Luft. Alles war gestrandet. Artillerie, Verwundete, Lager, große Divisionsöfen mit verrußten Schornsteinen, Ponton-Brükken, Pferde, eine wahre Flut; nur die Detonationen der zerstörten Lokomotiven donnerten dumpf. Und den ganzen Morgen über marschierten die Truppen vorbei, so daß die Patienten des Malteserspitals aus den Baracken A, C und D (Leichtverwundete, die nicht auf Tragen lagen, sondern sich selbst bewegen konnten) fröhlich durch den Stacheldraht blickten, nach draußen auf die Schrekken des Krieges, wo Rikcug herrschte und wo heute Menschen vom Sonnenstich auf den Straßen zusammenbrechen würden, während es ihnen hier doch einigermaßen gutging. Sie standen unter der Obhut des Roten Kreuzes, und man würde sie nirgendwo hintreiben, und wenn der Russe käme, würde man sie wieder abtransportieren, irgendwohin, weit weg von hier, in russische Krankenhäuser und Lager, und dort würde es keinen Krieg geben, und sie würden am Leben bleiben, und der Krieg würde allem Anschein nach für sie noch heute morgen zu Ende gehen. Und daß dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden mußte, war der einzige Gedanke in den Köpfen der Verwundeten.
Graf Maximilian Axelrode, der Chef des Malteserspitals, verfrachtete das vornehme weibliche Personal (zwei, drei Baroninnen und eine Frau General) in Automobile, er selbst aber entschloß sich, bis zum letzten mit seiner Malteserfahne hier auszuharren. Die Glocke am Leichenhaus läutete, und Graf Axelrode lief in seiner schwarzen Montur mit dem Malteserkreuz wie jeden Morgen durch die Baracken und betrachtete die gelblichen, nackten Leichen, die von den Russen in Särgen vorbeigetragen wurden; und die Russen trugen die Toten und grüßten dabei den Grafen und zogen vor ihm die Kappe bis zum Boden.
– Kaum zu glauben, wieviel sich innerhalb der letzten zwölf Stunden im ganzen Spital verändert hat.
– Ja! Das ist wahr! Gestern ist ein ungewöhnlich unruhiger Tag gewesen. Die verfluchte Sonne hat alle Hirne erhitzt, dann noch die alarmierenden Nachrichten und Depeschen von verminten Lokomotiven, all das hat sich auf die Štimung ausgewirkt! Und dann der neue Transport, der die Hausordnung im Spital völlig auf den Kopf gestellt hat, und auch in den Küchen und Ambulatorien. Ja, dieser Transport auch noch! Aber heute, wenn draußen die Formationen vorbeiziehen und man das alles wie auf einem Schachbrett sieht, wenn man sieht, wie die Figuren fallen, heute springt einem das alles mehr ins Auge, und alles wirkt noch destruktiver. Wo hätte sich jener Sanitätsgefreite noch gestern um diese Zeit getraut, im Angesicht Seiner Exzellenz Kognak aus der großen Flasche zu trinken? Und doch, er hat doch bemerkt, daß der Graf kommt, aber er hat seelenruhig weitergetrunken, als ginge ihn das alles nichts an. Und warum grinsen beinahe alle Patienten so spöttisch? Und was singen nur diese Russen? (Die russischen Sklaven singen bei ihrem Gottesdienst in der Baracke, weil heute ein orthodoxer Feiertag ist.) Schau an! Heute begießt keiner die Blumenrondelle, obwohl darauf in der Spitalordnung besonders hingewiesen wird! Und nirgendwo ist jemand! Wie einsam es ist unter dieser Meute!
So stand der Graf da, allein wie ein Schatten, und war ganz erschüttert, so daß er nicht mehr die Energie verspürte, die Dinge ins richtige Lot zu bringen, und er wußte nicht so recht, was zu tun war. Er konnte keine Verbindung zum Oberkommando herstellen, er wußte nichts über die Dispositionen, und die Divisionsgeneralität war vor einigen Minuten in Automobilen vorbeigerauscht, ohne anzuhalten! So daß der Graf die Abteilungsleiter in seine Baracke zur Beratung zusammenrief, um eine Entscheidung darüber zu treffen, was nun zu tun sei.
Die einen waren dafür, daß fünfzig Prozent des Personals blieb und die restlichen fünfzig Prozent gingen; die anderen waren nicht dafür, und die dritten waren weder für das eine noch für das andere, sondern für etwas Drittes, und dieses Hin und Her dauerte so lange, daß am Ende nichts beschlossen wurde, „bis auf weiteres“. Dieses „weitere“ trat allerdings bereits um fünf Uhr nachmittags ein, als nämlich unmißverständlich klar wurde, daß das Spital noch in derselben Nacht aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen die Linien geraten würde; denn die Russen – so schien es – hatten an diesem Teil der Front keinen Kontakt mit unseren Truppen. Und wenn der geplante großangelegte Gegenangriff, der vor achtundvierzig Stunden angekündigt worden war, nicht gelang (und das war sehr wahrscheinlich), dann würde morgen um diese Zeit aller Voraussicht nach der Sanitätsoffizier irgendeiner russischen Division nach Gutdünken über das Malteserspital entscheiden.
Deshalb wurde dann doch beschlossen, daß sich Graf Axelrode mit den Chirurgen und dem wertvollsten Material und der Hälfte des Personals in dieser Nacht auf ein fünfzehn Kilometer westlich gelegenes Gut zurückziehen sollte, um dort in Kontakt mit einer größeren Einheit zu treten und sich schriftlich darüber zu beschweren, daß man ihn und sein Spital vergessen hatte; als handelte es sich um eine Nadel; aber es war keine Nadel, sondern ein Malteserspital mit eintausendfünfhundert verwundeten Menschen.
Die letzten größeren Infanterieeinheiten waren schon vorbeigezogen, und man konnte nahebei die Kanonen hören. Daraufhin demolierten die Patienten den Stacheldrahtzaun, saßen in den Straßengräben und unterhielten sich über die Menschen, die aus der Schlacht kamen, und über Ihn. Und Er war Brusilov. Er war der Russe.
– Wo ist Er? Ist Er hier? Was macht Er? Wann kommt Er? Er scheint unterwegs zu sein. Er wird sich bis Wien nicht mehr aufhalten lassen. Er kommt.
Und die Truppen waren müde und durstig, und jeder erzählte etwas anderes, und man wußte überhaupt nichts, aber Er würde auf jeden Fall kommen.
Der Abend kam, und die Scheinwerfer begannen über den Himmel zu streichen, und die Kanonen donnerten in der Ferne, und die letzten Einheiten waren vorbeigezogen, aber Er war nicht da. Er wurde aus unbekannten Gründen aufgehalten, und Er blieb stehen – so merkwürdig, wie wenn man den Atem anhält –, und nun stand Er.
Drei Kilometer vom Spital entfernt stand unter Weiden schlammiges Wasser, und dort brannten Brücken – man konnte es deutlich sehen – und gegenüber, am anderen Ufer, herrschte Ruhe, als wenn dort niemand gewesen wäre. In dieser geheimnisvollen Zeit, da man nichts wußte, weder wo Er war, noch was Er machte, verspürte das ganze Malteserspital, daß es zwischen Wien und Moskau in der Luft hing und wahrscheinlich näher an Moskau als an Wien lag – und einer war so einfallsreich, die erste Flasche Kognak aus dem Magazin zu stehlen, denn wer wußte, was morgen sein würde? Die russischen Lagerverwalter waren noch pedantischer als die österreichischen. Es gab im Magazin sowohl Kognak wie auch roten Burgunder, ungarischen Landwein und Champagner, und eine Stunde später war das gesamte Malteserspital völlig betrunken, und der Wein floß nur so in den Baracken, und volle Bierflaschen wurden zerschlagen, denn wer wollte schon noch Bier trinken! Die russischen Sklaven, betört von der leuchtenden Illusion, daß sie nun – schon morgen – in ihre Dörfer am Ural, an der Wolga zurückkehren würden, begannen durch alle Baracken zu tanzen, und als ein ungarischer Arzt mit seinem Revolver auf die Wärter schoß und versuchte, den Alkohol mit Schießpulver zu besiegen, entwickelte sich eine wahre kleine Schlacht und Schießerei, so daß sich der ungarische Arzt, von den Elementen besiegt, zurückzog und mit den Krankenschwestern im Dunkeln verschwand. Zwei Deutsche, Schwester Friede und Schwester Marianne (deren Verlobter bei Verdun gefallen war und die immer Ullsteinbücher las), wurden noch auf ihren Zimmern erwischt und vergewaltigt, und nach diesem Vorfall löste sich alles auf, und die Menge begann, immer heftiger und gewaltiger auf ihre Freiheit zu trinken, und so trank sie sich bis zum Wahnsinn satt an dieser Illusion, und alles wurde zu einem betrunkenen Traum. Diese betrunkenen Verwundeten, in Krankenhemden, mit Flaschen in der Hand, begrüßten jede der Raketen, die im Minutentakt auf der anderen Seite aus den Wäldern aufstiegen, mit wildem Gejohle und Gepfeife, und alles war von Sinnen wie auf einem Jahrmarkt.
Den elenden Verwundeten in Baracke Fünf B wurde Wein in Töpfen gebracht, und die gebrochenen Knochen und amputierten Beine, die unter der Gaze wie Räucherfleisch dörrten, sie alle betranken sich weiß Gott wie, so daß auf Vidovićs Bett einige Ungarn Ajnc zu spielen begannen.
Banka, resto! Resto, banka! – so hörte man sie rufen, und die Karten wurden gemischt, und es wurde getrunken, und alle Gesichter sahen wie Masken von chinesischen Piraten aus, verzerrt und grinsend, mit kaputten Zähnen geschmückt, aber dennoch grinsten sie? – Resto! Ajnc! – Ein Teufel kletterte auf den Dachboden der Baracke und begann dort zu tanzen, und der Putz löste sich, und es sah so aus, als berste die Dekke und alles stürze ein. Und aus Baracke C hörte man Zieharmonika und Okarina und Gusle erklingen, dort waren Männer aus Syrmien, so daß alles von dem Lied „I mama, i tata“ erfüllt war, und das freche und ausgelassene Scherzo vibrierte, und man hörte es gut hier in Fünf B, wo der durchsiebte, verzweifeltespan style=span style= Vidović lag, und ein einziger Gedanke kreiste in seinem Kopf: „Werden sie mich operieren? Hätten sie mir das heute alles rausgenommen, würde ich nicht bluten! Wo sind sie? Warum operieren sie mich nicht? Was geschieht hier eigentlich?“
– Resto! Ajnc! Resto! Banka!
– Mert arról, én nem tehetek, hogy nagyon nagyon szeretlek, trallala, lalala – sang einer der Amputierten das Couplet von Budapest.
Die Gaze von seinem amputierten Bein hatte er sich als Hut auf den Kopf gesetzt, und nun verbeugte er sich kokett nach links und rechts. Und ein Italiener sang die Irredenta. Leidenschaftlich ertönte sein Tenor – „Amor, amor, amor!“ Es wurde gesungen, getrunken, Schnaps wurde vergossen, und die Krätze-Patienten begannen, sich mit Besen durch die Baracken zu jagen und zu schreien, und alles knurrte wie eine Menagerie, und so schien es, daß sich alle diese Baracken wie verwundete, verdreckte blinde Hühner versammelt hatten und auf einem einzigen amputierten und verbundenen Bein herumzuhüpfen begannen, im Takt von Kanonen und Musik, die immer kräftiger und immer lauter vom Bahnhof herübertönte.
„Händewaschen vor dem Essen und nach dem Stuhlgang nicht vergessen“, begannen die Tiroler im Chor zu jodeln, den Text von den Schildern ablesend, die in den drei sogenannten Staatssprachen in allen Spitälern hingen. Die Ungarn hielten mit, und so sangen auch sie ihren ungarischen Vers:
„Egyél, igyál, se mindig elöbb mosdjál!“, und der dritte Vers:
„Peri ruke svagda prije jela,
peri poslije ispražnjenja tijela“,
dieser dritte Vers in der Sprache der kroatischen Heimwehr wurde von niemandem gesungen, über ihn lachte man nur wie über etwas Afrikanisches. Ein kurzsichtiger steirischer Kajzerjeger (dessen Augen durch die Gläser seiner Brille vergrößert wirkten, so daß sie wie grüne Murmeln hervorquollen), dieser Kajzerjeger wollte vor Lachen platzen. Er hustete und japste und lief rot an, und es fehlte nicht viel, daß er erstickte, und er brach sich die Zunge und wollte jenes berühmte kroatische Gedicht aufsagen:
„Peri ruke svagda prije jela,
peri poslije ispražnjenja tijela.“
– Haha, das is aber wirklich dumm! Is das dumm dieses „peri“! Was ist das, du, dieses – „peri“?
– Vasistas! Vasistas! Dummer Trottel. Nix! Nix! Komm Štef, sag du’s ihm! Du warst doch in Graz! Gevatter! Gevatter! Schnaps!
Und sie tranken und gröhlten, zogen sich gegenseitig auf, sangen und brüllten: ein wahres Babylon! Jemand hatte im Lager für die italienischen Gefangenen „Porca Madonna, io parlo italiano!“ gelernt, und nun rief er es den Italienern zu und winkte dabei mit der Hand „Porca Madonna, porca, porca, porca!“, und jemand verspottete die Rumänen mit einem Zitat aus der Typhus-Abteilung des Epidemie-Spitals: Nu este permis a ščper podele! Haha! Šči rumunješći!
– Liebe Brüder, ich bitte euch! Ruhe! Ich habe Schmerzen! Ich habe schlimme Schmerzen – rief Vidović, aber seine Stimme ging unter, und er röchelte nur, und das Blut quoll ihm zwischen den Zähnen hervor.
– Te! Mi az? Es schmerzt? Mindig ez a schmerzt? Mi az schmerzt?
– So ist es, wenn es schmerzt, mein Lieber – erklärte ein angeschossener Bunjevać dem Ungarn. – Weißt Du, wenn du verwundet bist, dann schmerzt es. Oder man hat sich irgendwo gestoßen! Auch dann hat man Schmerzen!
– Micsoda? Dario? Schmerzen? Ha ha! Schmerzen! Schmerzen!
– I mama, i tata ...
Und die Kanonen wurden immer lauter, als sägte jemand Holz vor der Baracke.
Der noch vor achtundvierzig Stunden angekündigte großangelegte Gegenangriff gelang tatsächlich, und die Russen wurden am Morgen mit einem Schlag weit zurückgeworfen. Einem Schlag von beiden Flanken. Fünfzehn Infanteriebataillone und einige Batterien wurden gefangengenommen, und Graf Maximilian Axelrode kam schon um halb zehn mit dem Auto im Spital an, begleitet von der Baronin Lichtenstein.
Zuerst gab es eine große Untersuchung wegen der Vergewaltigung der Deutschen (die von Ungarn geschändet worden waren), gegen halb eins wurden sieben Russen erschossen, wobei sie sich zuvor selbst ihr Grab ausheben mußten, und ungefähr dreihundertfünfzig Simulanten (die an der Körnerkrankheit, an Krätze und an Ge-schlechtskrankheiten Leidenden, ferner leichte Streifschüsse sowie alle internistischen Fälle aus den Baracken A 2, 3, 4, 5, mit Ausnahme all jener, die über 38°C Fieber hatten) wurden in den Kampf geschickt, und schon um halb elf herrschte im Spital wieder die nüchterne johannitische Malteserordnung.
Um die Autorität der kaiserlichen Fahne und jene Disziplin durchzusetzen, die in der vergangenen Nacht so kompromittiert schien, ordnete Graf Axelrode an, daß im Spital der große Sieg mit einem Fackelzug und einem Defilee gefeiert werden solle. Alle Patienten (ohne Ausnahme) sollten an dem schwarz-gelben Banner vorbeimarschieren, und die, die bettlägerig waren, sollten von den Russen auf Tragbaren vorbeigetragen werden, aber vorüberziehen sollten alle. Und so geschah es schließlich auch.
Alle Baracken bildeten eigene Formationen, und jeder bekam einen brennenden Lampion in die Hand, und die Kolonne wurde von einem Verpflegungsoffizier angeführt, der noch nie in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hatte, aber mit seinen Sporen klirrte und wie ein Regisseur die Menge ordnete. Eine Kolonne von mehreren hundert Menschen in grauen, blutigen Krankenhemden versammelte sich, und jeder hielt einen grünen oder roten Lampion in der Hand, und die leuchtenden Farben hoben sich grell von der aschgrauen Tünche der Dämmerung ab, und alles sah aus wie eine gespenstische Vision.
Die Kolonne zog vorüber.
Die Enkel der Toten, die auf den Wiener Barrikaden Anno achtundvierzig gefallen waren, die Kinder der Fahnenträger Garibaldis, die Hussiten, die Gotteskrieger, die Grenzsoldaten des Ban Jelačić, die ungarischen Honvéden von Kossuth, allesamt verkrüppelt, humpelnd, verunstaltet, verbunden, amputiert, auf Krücken, in Rollstühlen, auf Tragbah- ren, stießen einander voran und trugen sich gegenseitig, und dort stand die große schwarz-gelbe Fahne und unter ihr Graf Axelrode in Schwarz und mit dem Malteserkreuz und hinter ihm Krankenschwestern mit roten Kreuzen und Ärzte, und alle sangen im Chor: „Gott erhalte!“ Die Menschen schritten still einher, mit gesenktem Kopf, wie verschämt, immer noch verkatert von der letzten Nacht, und trugen gelbe Lampions wie Kerzen bei einer Beerdigung, und ein Hornspieler kletterte auf ein Barackendach und gab das Signal zum Ehrensalut.
Als man Vidović von diesem beschämenden Defilee in die Baracke Fünf B zurückbrachte, glühte er vor Fieber. Alles hatte sich in der letzten Nacht zum Schlechten gewendet, und die Wunden der ganzen Baracke schmerzten nun infolge des Alkohols im Quadrat. Der Sibirjake aus Bett Nummer Sieben hatte sich in der Nacht betrunken und war am Morgen schon tot gewesen, doch erst am Nachmittag trug man ihn aus der Baracke, und alles stank fürchterlich, weil das Blut geronnen war. Der Slowake mit der Kanüle in Bett Nummer Neun quälte sich noch immer, man hörte ihn atmen. Und ein Russe schrie irgendwo weiter unten ganz schrecklich, zwischen den Ungarn. Heute Nacht hatte er tanzen wollen und jetzt schrie er wie ein Irrer.
– Az atya úr istennét, ennek a Ruszkinak! Ruszki!
– Halt’s Maul! Du, Russe, du! Was schreist du so?
– Ich hab auch Schmerzen und trotzdem halt ich meine Schnauze!
– Ich möchte schlafen! Ihr verfluchten Bastarde!
– Hey Russe, Schnauze!
– Psst! Ruhe! Psst! Psst!
Vidović lag da und lauschte, wie die Baracke stritt, und spürte sein Ende nahen.
– Warum bin ich überhaupt geboren worden, welchen Zweck hatte das? Geboren zu sein in dieser dämlichen „Gassenhauer-Zivilisation“, in der es keine Traurigkeit gibt und alles nur eine Operette ist. Wie beschämend ist mein Tod! Wie zutiefst beschämend! Ich wollte leben, wollte etwas erleben! Und was ist geschehen? Spitäler, nur Spitäler! Wer, um Himmels willen, könnte den Sinn dieses Spitals ergründen? Nur Spitäler! Schon zwei Jahre reise ich von Spital zu Spital! Die schmucken Stadtspitäler mit ihren hochherrschaftlichen Huren! Klöster, in denen Tuberkulosekranke sterben! Serum wird ihnen gespritzt, ohne daß jemand an dieses Serum glaubt. Baracken! Solche schmutzigen, stinkenden, lausigen Holzbaracken! Ach, wie traurig und ekelhaft das alles ist!
Aus dem Bedürfnis heraus, sich zu bewegen, sich wachzurütteln, zu springen, loszurennen, mit voller Stimme zu schreien, versuchte Vidović sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht. Es hatte ihn erwischt. Der Schmerz übertönte den Aufruhr seiner Nerven, und er verlor sich in Nebeln und begann laut zu stöhnen.
– Pst! Pst! – protestierte die Baracke und zischte in der Dunkelheit.
Und der Schmerz nahm die unzähligen blutigen und zerrissenen Glieder, die über die ganze Baracke Fünf B verstreut lagen, immer mehr in seinen Besitz. Der Schmerz nahm übernatürliche Formen an, und die Männer begannen Gott anzuflehen. Der Herrgott selbst wurde als letzte Instanz angerufen, so wie man Bittbriefe an die Hofkanzlei schickt, wenn alle anderen Mittel versagt haben.
Ein Ungar rief seinen Iszten an! Er möge ihm helfen! Er möge kommen in seiner weiten Pferdehirtenhose, ihm zwei, drei Flaschen rotes Stierblut zu trinken geben, und dazu solle ein Teufel die Gusle spielen, so daß er endlich entweder sterben oder auferstehen könne. – So geht das nicht mehr weiter! – Gospodi, Gospodi, Gospodi! – rief der Russe, durchsichtig und blaß wie eine byzantinische Ikone, und betete zu seinem russischen Herrgott im Bojarenpelz, der auf dem goldenen Thron im Kreml thront, und es schrie der russische Mensch, schrie so, daß man seine Stimme bis ins ferne Mütterchen Moskau hörte, schrie und faltete die Hände und weinte wie ein Neugeborener: Gospodi! Gospodi!
Vidović kam zu sich, und er glaubte zu sehen, wie Iszten zu dem Ungarn kam, sich auf sein Bett setzte und ihm aus einer Feldflasche zu trinken gab, und der Ungar trank, immer mehr und mehr, und die Guslen klangen schluchzend, ach, wie gut es war, den Trank von einer Hand gereicht zu bekommen und dabei dem Gusleklang zu lauschen! Gut war das! Davon konnte man schlafen! Und der russische kaiserliche Herrgott, auch er lief durch die Baracke mit seinem großen Gefolge, und die Ikonen leuchteten, und es läuteten die Glocken des Heiligen Mütterchens, und jener alte Herr mit dem weißen Bart, im Seidenpelz, er wühlte in den russischen Gedärmen und holte die blutige Kugel aus dem russischen Menschen heraus, und alles ward leichter, ja, alles ward leichter, danke, lieber Herr, es ward leichter!
– Siehe da! Jeder von ihnen hat seinen Gott! Jeder von ihnen hat seinen Gott!
– Auch der aus Fiume („Mamma mia! Mamma mia!“), auch er hat seine Kardinäle und Päpste und römischen Flaggen, und der Russe und der Ungar, sie alle haben ihre Herren Götter, und wen habe ich? Auch ich habe Schmerzen! Auch ich bin angeschossen wie sie! Aber ich habe niemanden!
Das schmerzte Vidović so sehr, daß er die Arme erhob und sie nach jemandem ausstreckte, und die Arme verharrten in der Luft, und er verspürte eine schreckliche Leere, und es schnürte ihm die Kehle zu, und er begann laut zu weinen.
– Oh, ja! Ich habe vor unseren Kneipen Christus hängen sehen! Das war der echte kroatische Christus, und jede seiner dreiunddreißig Rippen war gebrochen, und die Brust durchlöchert, und er blutete aus unzähligen Wunden! Aber ich habe nie an ihn geglaubt! Ein solcher hölzerner Christus auf der schlammigen Straße, in der die Gülle fließt; kein Säufer geht an ihm vorbei, ohne ihn zu verfluchen; ein solcher hölzerner kroatischer Gott, entblößt, elend, dem das linke Bein fehlt, oh, der Gott mit der Soldatenmütze, ja, der – zu ihm sollte ich beten, er soll mir helfen ...
„Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein, Wir wollen alle Mütter sein,
Treu steht und fest die Wacht am Rhein.“
– Was ist das? Bin ich verrückt geworden? Zu wem bete ich? Es tut mir weh! Ich bete! Aber was sind das für Stimmen?
Gelbes Licht fiel durch den grünen Gazevorhang auf Vidovićs Kopf und weibliche Stimmen waren zu hören, die leise Verse in Moll sangen. Und man hörte, wie die Kristallgläser klirrten! Sie klirrten leise, die Stimmen waren leise, aber deutlich: „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein ...“
Direkt neben der Baracke Fünf B stand eine Laube, in der die Ärzte und die Templerdamen vom Roten Kreuz ihr Abendessen einzunehmen pflegten. Und heute abend nahm ausnahmsweise Graf Axelrode an dem Mahl teil, um mit dem Personal den Sieg zu feiern.
Dieser Sieg, der in einem Moment kam, als alles darauf hindeutete, daß die Würfel gegen einen gefallen waren, und dann hatte sich doch alles so wunderbar ins Gegenteil verkehrt, dieses großartige Erlebnis brachte ihn in Hochstimmung, und das patriotische Lied seiner germanischen Damen, die bereit waren, sich im Interesse des Krieges und der Kriegsführung schwängern zu lassen, lullte ihn ein, so daß Graf Maximilian Axelrode, Komtur des Malteserordens, aufstand und sein Glas erhob, um einen Toast auf den Sieg auszubringen. Er redete hingerissen über die Siege Seiner Majestät, bei denen seit jeher das Malteserbanner ungeschlagen und erhaben geweht hatte.
– Meine Damen! Luogotenente Fra Giovanni Battista Ceschi a Santa Croce, der mit eigenen Augen den Angriff der Jakobiner auf dieses unseres heilige Malteserkreuz, das zu vertreten ich die Ehre habe, mit ansehen mußte, dieser edle Ritter schrieb also in seiner Chronik, meine verehrten Damen: Wenn Seine Göttlichkeit das Gute vom Bösen oberhalb der erloschenen Sonne trennen wird, dann werden im Schatten Gottes die schwarzen Malteserumhänge die Ehrengarde bilden ...
Vidović hörte das Klirren der Gläser in der Laube und erkannte die Stimme des Grafen Kommandanten und erinnerte sich an seine Maske heute abend beim Fackelzug und beim Defilee.
– Ich bin verrückt geworden! Ich wollte schon beten! Oh! Dabei sind es nur die da draußen, die singen! Um Himmels Willen! Sie feiern den Sieg! Und dieser Malteserritter redet ...
– Was ist mit Nummer Neun? Er hat sich die Kanüle aus dem Hals gezogen! Er blutet! Schwester!
– Pst! Pst!
– Aber Nummer Neun blutet! Schwester!
– Es ist keiner da! Wo ist die Schwester! Nummer Neun ...
Draußen in der Laube, jenseits der weißgekalkten Bretter, klirrten die Gläser, und hier hatte Nummer Neun sich in seiner Agonie die Kanüle herausgezogen, und das Blut floß. Nummer Neun atmete schwer, er röchelte, so wie ein abgeschlachtetes Ferkel röchelt, und dann immer leiser und leiser ...
Vidović wollte schreien, aber seine Stimme versagte. Es war ihm klar, daß man für Nummer Neun eine Kerze anzünden mußte.
– Eine Kerze sollte man anzünden! Für seinen Seelenfrieden! – Er wiederholte das ununterbrochen, und seine Augen hafteten sich an die rote Blutlache von Nummer Neun. Er wollte aus Leibeskräften schreien, doch in ihm pfiff es nur wie durch ein Sieb.
– Halt die Schnauze! Hurensohn!
– Az apád istennét Csönd!
– Schluß!
– Nummer Neun ist gestorben! Nummer Neun ist gestorben! Und diese Kavaliere draußen singen und stoßen mit den Gläsern an! Fra Giovanni Battista a Santa Croce! Den möchte ich mal sehen! Diesen Kavalier von Malta möchte ich sehen ...
Und mit einer letzten Anstrengung, die eigentlich schon der Todeskrampf war, erhob sich Vidović wie ein Gespenst und zerriß den Gazevorhang über seinem Kopf! Dort gab es Licht! Dort war ein helles Quadrat, und zwischen den Blättern der Laube waren die weißen Damen mit den roten Kreuzen zu sehen, halb betrunken, lachend, laut, die künftigen Mütter künftiger Mörder.
– Pfui – wollte Vidović rufen, und ein letzter heller Gedanke blitzte in seinem Kopf auf: Man müßte den Nachtopf aus Porzellan mit all dem Dreck auf das weiße Tischtuch leeren, alles soll dreckig werden – drekkig, so daß auf jener weißen Tischdecke ein riesengroßer, schrecklicher Fleck wäre, und alle würden zu rufen beginnen: ein Fleck, ein Fleck.
Bei dem Versuch, diesen seinen letzten armseligen Gedanken in die Tat umzusetzen, beugte sich Vidović zu seinem Topf hinunter und spürte noch im Fallen, wie seine Hände in die schreckliche Masse eintauchten – und dann ertrank alles im Blut, das wie ein Sturzbach aus ihm heraus- quoll ...
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
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Kritična masa raspisuje novi natječaj književne nagrade "Kritična masa" za mlade autorice i autore (do 35 godina).
Ovo je osmo izdanje nagrade koja pruža pregled mlađe prozne scene (širi i uži izbor) i promovira nova prozna imena.
Prva nagrada iznosi 700 eura (bruto iznos) i dodjeljuje se uz plaketu.
U konkurenciju ulaze svi dosad neobjavljeni oblici proznih priloga (kratka priča, odlomci iz većih formi, prozne crtice). Osim prozne fikcije, prihvatljivi su i dokumentarni prozni tekstovi te dnevničke forme koji posjeduju književnu dimenziju.
Prethodnih su godina nagradu dobili Ana Rajković, Jelena Zlatar, Marina Gudelj, Mira Petrović, Filip Rutić, Eva Simčić i Ana Predan.
Krajnji rok za slanje prijava je 10.12.2024.
Pravo sudjelovanja imaju autorice i autori rođeni od 10.12.1989. nadalje.
NAGRADA "KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Robert Aralica (Šibenik, 1997.) studij hrvatskoga i engleskoga jezika i književnosti završava 2020. godine na Filozofskom fakultetu Sveučilišta u Splitu. U slobodno vrijeme bavi se pisanjem proze i produkcijom elektroničke glazbe. Svoje literarne radove objavljivao je u studentskim časopisima Humanist i The Split Mind. 2022. kriminalističkom pričom Natkrovlje od čempresa osvojio je prvo mjesto na natječaju Kristalna pepeljara. Trenutno je zaposlen u II. i V. splitskoj gimnaziji kao nastavnik hrvatskoga jezika.
NAGRADA "KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Iva Esterajher (Ljubljana, 1988.) živi i radi u Zagrebu. Diplomirala je politologiju na Fakultetu političkih znanosti. Aktivno se bavi likovnom umjetnošću (crtanje, slikarstvo, grafički rad), fotografijom, kreativnim pisanjem te pisanjem filmskih i glazbenih recenzija. Kratke priče i poezija objavljene su joj u književnim časopisima i na portalima (Urbani vračevi, UBIQ, Astronaut, Strane, NEMA, Afirmator) te je sudjelovala na nekoliko književnih natječaja i manifestacija (Večernji list, Arteist, FantaSTikon, Pamela festival i dr.).
NAGRADA "KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Nikola Pavičić (Zagreb, 2004.) živi u Svetoj Nedelji. Pohađa Pravni fakultet Sveučilišta u Zagrebu. Piše, napose poeziju i lirsku prozu, te sa svojim tekstovima nastoji sudjelovati u literarnim natječajima i časopisima. U slobodno vrijeme voli proučavati književnost i povijest te učiti jezike.
NAGRADA "KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Luca Kozina (Split, 1990.) piše prozu, poeziju i književne kritike. Dobitnica je nagrade Prozak u sklopu koje je 2021. objavljena zbirka priča Važno je imati hobi. Zbirka je ušla u uži izbor nagrade Edo Budiša. Dobitnica je nagrada za poeziju Mak Dizdar i Pisanje na Tanane izdavačke kuće Kontrast u kategoriji Priroda. Dobitnica je nagrade Ulaznica za poeziju. Od 2016. piše književne kritike za portal Booksu. Članica je splitske udruge Pisci za pisce. Zajedno s Ružicom Gašperov i Sarom Kopeczky autorica je knjige Priručnica - od ideje do priče (2023).
NAGRADA "KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Ana Predan (Pula, 1996.) odrasla je u Vodnjanu. U šestoj godini počinje svirati violinu, a u šesnaestoj pjevati jazz. Po završetku srednje škole seli u Ljubljanu gdje studira međunarodne odnose, a onda u Trst gdje upisuje jazz pjevanje pri tršćanskom konzervatoriju na kojem je diplomirala ove godine s temom radništva u glazbi Istre. U toku studiranja putuje u Estoniju gdje godinu dana provodi na Erasmus+ studentskoj razmjeni. Tada sudjeluje na mnogo vrijednih i važnih projekata, i radi s umjetnicima i prijateljima, a počinje se i odmicati od jazza, te otkriva eksperimentalnu i improviziranu glazbu, te se počinje zanimati za druge, vizualne medije, osobito film. Trenutno živi u Puli, gdje piše za Radio Rojc i predaje violinu u Glazbenoj školi Ivana Matetića-Ronjgova. Piše oduvijek i često, najčešće sebi.
NAGRADA "SEDMICA & KRITIČNA MASA" - UŽI IZBOR
Eva Simčić (Rijeka, 1990.) do sada je kraću prozu objavljivala na stranicama Gradske knjižnice Rijeka, na blogu i Facebook stranici Čovjek-Časopis, Reviji Razpotja i na stranici Air Beletrina. Trenutno živi i radi u Oslu gdje dovršava doktorat iz postjugoslavenske književnosti i kulture.
Jyrki K. Ihalainen (r. 1957.) finski je pisac, prevoditelj i izdavač. Od 1978. Ihalainen je objavio 34 zbirke poezije na finskom, engleskom i danskom. Njegova prva zbirka poezije, Flesh & Night , objavljena u Christianiji 1978. JK Ihalainen posjeduje izdavačku kuću Palladium Kirjat u sklopu koje sam izrađuje svoje knjige od početka do kraja: piše ih ili prevodi, djeluje kao njihov izdavač, tiska ih u svojoj tiskari u Siuronkoskom i vodi njihovu prodaju. Ihalainenova djela ilustrirali su poznati umjetnici, uključujući Williama S. Burroughsa , Outi Heiskanen i Maritu Liulia. Ihalainen je dobio niz uglednih nagrada u Finskoj: Nuoren Voiman Liito 1995., nagradu za umjetnost Pirkanmaa 1998., nagradu Eino Leino 2010. Od 2003. Ihalainen je umjetnički direktor Anniki Poetry Festivala koji se odvija u Tampereu. Ihalainenova najnovija zbirka pjesama je "Sytykkei", objavljena 2016 . Bavi se i izvođenjem poezije; bio je, između ostalog, gost na albumu Loppuasukas finskog rap izvođača Asa 2008., gdje izvodi tekst pjesme "Alkuasukas".
Maja Marchig (Rijeka, 1973.) živi u Zagrebu gdje radi kao računovođa. Piše poeziju i kratke priče. Polaznica je više radionica pisanja poezije i proze. Objavljivala je u brojnim časopisima u regiji kao što su Strane, Fantom slobode, Tema i Poezija. Članica literarne organizacije ZLO. Nekoliko puta je bila finalistica hrvatskih i regionalnih književnih natječaja (Natječaja za kratku priču FEKPa 2015., Međunarodnog konkursa za kratku priču “Vranac” 2015., Nagrade Post scriptum za književnost na društvenim mrežama 2019. i 2020. godine). Njena kratka priča “Terapija” osvojila je drugu nagradu na natječaju KROMOmetaFORA2020. 2022. godine objavila je zbirku pjesama Spavajte u čarapama uz potporu za poticanje književnog stvaralaštva Ministarstva kulture i medija Republike Hrvatske u biblioteci Poezija Hrvatskog društva pisaca.
Juha Kulmala (r. 1962.) finski je pjesnik koji živi u Turkuu. Njegova zbirka "Pompeijin iloiset päivät" ("Veseli dani Pompeja") dobila je nacionalnu pjesničku nagradu Dancing Bear 2014. koju dodjeljuje finska javna radiotelevizija Yle. A njegova zbirka "Emme ole dodo" ("Mi nismo Dodo") nagrađena je nacionalnom nagradom Jarkko Laine 2011. Kulmalina poezija ukorijenjena je u beatu, nadrealizmu i ekspresionizmu i često se koristi uvrnutim, lakonskim humorom. Pjesme su mu prevedene na više jezika. Nastupao je na mnogim festivalima i klubovima, npr. u Engleskoj, Njemačkoj, Rusiji, Estoniji i Turskoj, ponekad s glazbenicima ili drugim umjetnicima. Također je predsjednik festivala Tjedan poezije u Turkuu.