Prosa

Juliana Adamović: Wildgänse

Julijana Adamović ist eine preisgekrönte Schriftstellerin. Ihr letzter, autobiographisch inspirierter Roman, „Divlje guske“ („Wildgänse“) (2018), wurde von Kritik und Publikum sehr positiv aufgenommen. Sie wurde 1969 im Norden Serbiens geboren, in der multinationalen pannonischen Region Vojvodina (noch genauer, in Bačka), die durch die Jahrhunderte Staaten und ihre ethnische Struktur „wechselte“. Obwohl intensive Migrationen Menschen verschiedener Zugehörigkeiten einander näherbrachten, zerrüttete der Krieg in den Neunzigern die Beziehungen wieder und führte zu erneuten Migrationswellen, was auch das literarische Interesse der Autorin bestimmte. Im Roman „Divlje guske“ reflektiert sie durch das Prisma einer intimen Geschichte über das Aufwachsen zweier siebenjähriger Zwillingsschwestern die gesellschaftlichen Verhältnisse im sozialistischen Jugoslawien, sowie die Spuren der Zeiten davor, mit einem unmittelbaren Einblick in den fluiden Charakter von Identität. Sie lebt in Vukovar.



 

Auszug aus dem Roman „Wildgänse“.

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof.

 

Mama schrieb Oma in Deutschland einen Brief. Oma kann nicht lesen, aber dort gibt es viele Leute, die unsere Sprache verstehen. Mama sagt, sie habe ihr geschrieben, dass bei uns alles in Ordnung sei, dass wir das Geld bekommen hätten, das sie uns im letzten Monat geschickt habe, und dass sie sich sehr bedanke, weil sie den Strom bezahlt und für den kommenden Winter Holz gekauft habe. Sie sagt, dass sie das überspringt, dass uns im Sommer der Strom fast einen Monat abgestellt war und dass wir in den Taschen der Winterjacken und -mäntel nach Geld für Brot gesucht haben. Uns tut es etwas leid, dass sie das übersprungen hat, weil wir beide in diesem Spiel die Siegerinnen waren. In Papas Jacke haben wir sogar zweihundert Dinar gefunden. Mama sagt, das tun wir nicht, denn das würde Oma zu sehr aufregen.

Weiter schreibt sie, dass uns manchmal der Fernseher kaputt geht, aber dass wir ihn immer wieder reparieren können, so dass wir fürs erste keinen neuen brauchen.

Sie schreibt auch, dass meine Schwester wächst, dass sie brav und schön ist, was die reinste Lüge ist.

Was Opa Palika angeht, schreibt sie zuerst, dass Oma sich keine Sorgen um die Sauen machen soll, dass sie gut genährt sind, aber auch das ist gelogen. Wir haben hundert Mal gehört, wie sie zu Opa sagt, dass er sich nicht genügend um die Schweine kümmert.

„Aber Papa, ihr wisst doch, dass Mama böse wird, wenn sie kommt und sieht, wie mager sie sind.“

„Was versteht sie davon?“ hat Opa zur Antwort gegeben. „Bevor sie mich geheiratet hat, hat sie nicht mal gewusst, was das ist, ein Schwein.“

Mama schreibt aber doch, dass Großvater schlecht isst, dass er immer seltener zu uns kommt und dass er letzten Sonntag überhaupt nicht zu Mittag war und sie die Suppe und das Fleisch in den Henkelmann tun und fertig hinbringen musste. Als sie ins Haus kam, sah sie ihn, wie er unter den flackernden Weihnachtslämpchen ein Buch las, obwohl schon längst die Schwalben da sind und der Frühling angefangen hat. Sie schreibt noch, dass er neben der Couch eine große Blechdose für Bohnen aus der Arbeiterkantine stehen hat, in die er reinpinkelt, da soll Oma mal gut überlegen, wie lange sie noch in Deutschland bleiben will. Sie weiß, dass wir alle nie genug Geld haben und dass Papas Lohn klein ist, dass er sich oft krank meldet und es dann noch weniger ist und dass der Arbeiterrat nur den eigenen Leuten was zuschustert und dass von Kredit keine Rede sein kann, aber dass sie auch fürchtet, dass Opa es nicht mehr lange alleine macht. Sie fürchtet auch, dass er nicht bei uns leben will und dass sie mit den kleinen Kindern auch nicht in ihr Haus kann, denn wir haben nicht alle in einem Zimmer Platz, und wie soll sie dann ständig hin und her rennen.

Am Schluss schreibt sie noch, dass sie gehört hat, dass die Marcinis unser Haus annonciert haben, aber dass die Leute das vielleicht nur erzählen, weil sie nichts Vernünftigeres zu tun haben. An unserer Ecke hat der Austrommler jedenfalls nichts dergleichen ausgerufen. Dann grüßt sie sie vielmals von uns allen und lässt uns beide am Ende der Seite noch malen, was wir wollen. Wir malen eine traurige Bärin, die mit bunten Troddeln geschmückt ist. Vor ein paar Tagen haben ein Zigeuner und seine dicke Frau sie auf einem Gespann angekarrt und sie dann an einer Kette durchs ganze Dorf gezogen. Nur malen wir der Bärin keine Kette an, denn noch immer hören wir ihr trauriges Brüllen. Immer wenn sie sich auf ihre vier Beine gestellt hat, hat der Besitzer mit der Peitsche gepfiffen und stark an der Kette gezogen, die um ihren Hals geschmiedet war, so dass sich die Bärin wieder brüllend auf die Hinterbeine gestellt hat und weitergeschwankt ist wie ein Mensch. Sie ist wie ein Betrunkener getorkelt und hat die ganze Zeit traurig geweint. Die anderen Kinder sind um sie herumgelaufen, weit genug weg, damit die Bären sie nicht erwischt, und doch nahe genug, um sie mit kleinen Steinen werfen zu können. Wir nicht. Manchmal hat uns geschienen, als hörten wir das traurige „Mama!“ der Bärin.

Wir malen deshalb auch Zorro den Rächer, damit er den Zigeuner und seine Frau bestraft. Zum Glück sind sie nicht aus unserem Dorf. Und Zorro soll auch die Marcinis bestrafen, weil sie das Haus verkauft haben. Vielleicht begreift Oma das alles und kauft auch so einen Hut und eine Maske und einen Umhang. Genau wie auf der Zeichnung. Dann malen wir unsere Lippen mit Mamas Lippenstift an und drücken mehrere Küsse auf das Papier.

Mama steckt den Brief in einen Umschlag, leckt die Marke an und sagt, dass wir ihn zur Post bringen sollen. Da werden wir zwei ganz aufgeregt. Und was, wenn uns dort der Sohn des Briefträgers, dieser Räuber, entgegenkommt.

„Redet keinen Unsinn“, sagt Mama. „Er klaut Hühner und Transistorradios, aber keine kleinen Kinder.“

Trotzdem haben wir Angst.

Als uns Mama die Schleifen an den Schuhen gebunden und uns mit dem vor die Tür gebracht hat, gehen wir zuerst zu Mara. Wir möchten, dass sie mitkommt, aber daraus wird nichts. Bei ihnen herrscht große Stille. Maras Mama ist schon zwei Tage sehr krank, sie kann kein Wasser und keine weiche Nahrung zu sich nehmen, alles fällt ihr raus und rinnt ihr übers Kinn. Doktor Nana hat gesagt, wenn es ihr bis zum Abend nicht besser geht, muss er den Krankenwagen rufen und sie ins Krankenhaus bringen, damit sie sie dort mit der Nadel und mit Schläuchen ernähren.

Wir sehen ein, dass es wirklich dumm wäre von Mara zu verlangen, dass sie mitkommt, und halten uns deshalb nicht lange auf, sondern verabschieden uns und gehen wieder.

Anstatt in die Zentrum des Dorfs, zur Post, gehen wir um die Ecke und werfen den Brief ins Gras. Wir rennen nach Hause, als wäre auf der Straße der Höllenhund persönlich hinter uns her. Die ganze Zeit spüren wir schon seinen feurigen Atem im Rücken.

„Wieso seid ihr so schnell zurück?“ fragt Mama.

„Wir sind gerannt“, antworten wir und zupfen an den Schuhbändern herum.

„Habt ihr den Brief eingeworfen?“

„Ja.“

„Meine braven Mädchen“, sagt Mama.

Am nächsten Tag steht plötzlich Bobe Mojzeš vor der Tür. Sie steht vor uns wie eine Erscheinung, gestützt auf ihren Besen, und in ihrer Hand, über unseren verdutzten Gesichtern, der Brief. Mama nimmt ihn und sagt kurz: „Danke.“

Dann legt Bobe ihre schmutzigen Hände auf unsere Köpfe, lacht und streichelt uns.

Als sie sich umdreht und weggeht, schließt Mama langsam die Tür hinter ihr, und noch bevor wir uns überhaupt eine Entschuldigung ausdenken können, packt sie uns und ohrfeigt uns wie nie zuvor.

In dieser Nacht ist Maras Mutter gestorben.

 

(…)

 

Oma ist für immer aus Deutschland zurück. Sie ist mit dem Flugzeug gekommen und mit neuen künstlichen Zähnen. Wenn sie sie vor dem Schlafen herausnimmt, gucken aus dem Gaumen Metallzinken heraus, in die sie morgens ihre Zähne wieder einhängt. In der Nacht hat sie sie in einem Glas, was gruselig aussieht. Wenn Oma einen plötzlichen Schnarcher macht, zuckt sie zusammen und fuchtelt mit den Händen, als würde sie von etwas angefallen. Der Nachtschrank fängt von diesem Herumfuchteln an zu zittern und bringt das Wasser im Glas zum Schaukeln, und es sieht aus, als würden die Zähne jeden Moment herausspringen und sie in das faltige Doppelkinn beißen. Das jagt uns Angst ein, und deshalb mögen wir nicht bei ihr schlafen.

 

(...)

 

Oma schläft ein, sobald sie sich aufs Bett legt, und wir bleiben neben ihr ganz wach liegen und spielen mit dem Schatten der Finger an der Wand. Hund, Hase, Schmetterling und Vogel, das alles können wir machen.

Wir mögen auch nicht, wenn Oma nachmittags auf uns aufpasst. Wenn sie nicht schläft, pusselt sie ständig im Garten oder im Hof herum. Am Zaun zum Hinterhof hängt sie alles auf, was sie an dem Tag gewaschen hat: Wäschestücke, die Milchkanne, leere Konservendosen und Plastiktüten. Auf jedem Foto, das mit ihrem Fotoapparat gemacht wurde, ist hinter unserem Rücken diese Unordnung. Papa fragt sich, was der Mensch, der die Bilder in Deutschland entwickelt hat, wohl von uns denkt, was für unordentliche Menschen wir sind, und sagt auch, dass Oma dort nichts gelernt hat und dass es ein wahres Wunder ist, dass sich Opa Palika gerade mit ihr verheiratet hat. Denn bei Opa ist immer alles wie an der Schnur ausgerichtet, die Comics ordentlich einer auf dem anderen, und unsere Schuhe in einer Linie, von seinen großen, über unsere, bis zu den kleinsten – die von meiner Schwester. Hätte Oma in unserem Ort gelebt, als hier die Ungarn das Sagen hatten, wäre sie ständig bestraft worden. Oder das ist die Strafe für Opa Palika, weil er Ungar ist.

Es ist auch nicht gut, wenn Oma auf Monika aufpasst. Manchmal schläft sie schon vor ihr ein, so dass sie einmal sogar aus dem Bett gekrochen und auf die Straße hinaus getorkelt ist. Hätte nicht die Nachbarin sie vor dem Haus gefunden, wäre Monika im Graben gelandet oder hätte sie der Fuchs gebissen.

Und Füchse können tollwütig sein. Das haben sie uns in der Schule gesagt. Dann haben sie uns einen schrecklichen Film gezeigt, in dem die Menschen, sogar Kinder, mit Lederriemen an Metallbetten gebunden waren. Sie halten sie in Käfigen, dass sie jammern und schreien, während ihnen die Spucke und der weiße Schaum aus dem Mund rinnt. Sie haben schreckliche Angst vor normalem Wasser. Das war so schrecklich, dass wir monatelang Angst hatten die Straße runter zu gehen, selbst damals, als Triva vergessen hat, ihre Zigarette auszumachen, und ihre Hütte angesteckt hat, so dass sie Slavuj und Slamica in ein Heim gebracht haben. Wieder sind wir von der Schule bis nach Hause so schnell gerannt, dass uns das Herz bis in den Hals geschlagen hat und hier erschrocken zusammengepresst und eingeklemmt noch lange, lange nach dem Laufen geschlagen hat. Als wir den Hof erreicht hatten, haben wir den Hahn aufgedreht und uns über den Wasserstrahl gestellt, glücklich darüber, dass wir nicht angesteckt sind. Wir haben getrunken, auch wenn wir nicht durstig waren, und uns damit beruhigt, dass mit uns immer alles in Ordnung ist.

Erst nach diesem Film war uns klar, was mit Kuzma passiert ist, weshalb er in einem zugelöteten Blechsarg aus dem Krankenhaus wiedergekommen ist.

Jetzt hassten wir die Marcinis aus dem tiefen Grund unserer Seele. Wir verachteten sie wie keinen sonst auf der Welt. Mehr als einen Feind mit Gewehr und als gekochte Hühnerhaut. Mehr als den Sohn vom Postboten. Das war nicht nur wegen Švaba, die sie beklaut hatten, oder der armen Guska, die sie eingesperrt und so haben sterben lassen, ohne Hilfe und Trost, und die dann tot auf den Füßen steht und so tut, als sähe und wüsste sie alles, sondern auch deshalb, weil wir ihretwegen wegziehen müssen ins Unbekannte. Weit weg von Kolja und Lenka, weit weg von Oma, weit von den Menschen, die uns nichts tun und die uns so nehmen, wie wir sind.

Allmählich hassen wir auch Oma, deshalb weil sie das ganze Geld mitgebracht hat. Wir möchten, dass die Zähne wirklich mal aus dem Glas springen und sich alle ohne Ausnahme in ihren Hals bohren.

 

 

 

 

 

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Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

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Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
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Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

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Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

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"Und du willst nach Senj, Thilo?“

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