Prosa

Zoran Lazić: Eines Tages nichts

Zoran Lazić, 1976 in Slavonski Brod geboren, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er schreibt Romane: „Jednog dana ništa“ („Eines Tages nichts“), „Ljeto u gradu“ („Sommer in der Stadt“), „Gori domovina“ („Die Heimat brennt“); Erzählungen und Kurzgeschichten: „Miss Krampus“, „Kalendar“ („Kalender“); Drehbücher für Spielfilme („Narodni heroj Ljiljan Vidić“) und TV Serien („Zakon!“, „Bitange i princeze“); und Theaterstücke: „Spektakluk“ („Spektakltum“). Er ist auch ein ehemaliger Film- und Musikkritiker und war Redakteur des generationsbestimmenden Magazins für Popkultur Nomad. Er lebt in Zagreb.



 

Auszüge aus dem Roman „Eines Tages nichts“.

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof.

 

 

Mein Film ist kein Film einer Katastrophe, sondern ein Familiendrama, aber so beginnt er, mit einer Katastrophe. Er setzt sechs Monate vorher ein, in einem split screen: auf der linken Seite des Bildschirms sind wir, wir fahren in den Urlaub, auf der rechten Seite ist unsere verlassene Wohnung. Es ist Ende Juni. Noch während wir an der Mautstelle sind, wir sind noch nicht einmal richtig aus der Stadt heraus, beginnt ein dünner Strahl heißen Wassers in die Wanne zu laufen. Wir kommen zu Oma und Opa und liefern unsere Geschenke ab: für ihn einen Hut, für sie ein Keramikmesser. Während wir ihnen die Fotos unserer neuen Wohnung zeigen, die Küche, die Tapeten, die Betten, uns fehlt nur noch der Kronleuchter im Wohnzimmer, während wir uns selber loben, wie wir alles so schön eingerichtet haben, läuft das Wasser, beschlagen die Fensterscheiben. Ich bringe dir das Radfahren bei. Du fällst zusammen mit dem Fahrrad ins Gras, wir lachen, der Sommer hat erst angefangen, du wirst es lernen. In unserer Wohnung lösen sich die Tapeten ab, rinnt die Farbe von den Wänden, fallen Farbplacken von der Decke, aus dem Computer quillt der Rost, das Parkett wölbt sich. Mama und ich gehen einkaufen, Mama möchte einen Kronleuchter fürs Wohnzimmer, aber ich bin dagegen: wie sollen wir ihn ins Auto reinkriegen, er ist riesig, und im Übrigen kann das nicht bis zum Herbst warten, müssen wir das Geld jetzt dafür ausgeben? Mama sagt, dass sie so nicht weiterleben kann, wir streiten uns, wir reden den ganzen Tag nicht miteinander. Während wir uns streiten, kommt das Nass bis zum Kühlschrank und zum Strom, die Hauptsicherung springt heraus, das Parkett springt auf. Wir machen einen Besuch bei Mamas Freundin, sie ist schwanger, im Hof hat sie ein kleines aufblasbares Schwimmbecken, wir essen Kuchen, du badest im Becken, dir ist heiß, das Wasser ist zu warm. Das Wasser läuft, auf den Wänden bildet sich Schimmel, schwarzer und grüner, auf dem Badezimmerschrank keimen orangefarbene Pilze. Es ist heiß, wir schlafen nackt, das Fenster ist offen, eine Mücke ist im Zimmer, jedes Mal wenn ich einschlafe, sirrt sie mir ins Ohr und weckt mich. Ich mache Licht, ich suche sie, ich will sie erschlagen, sie hat uns völlig zerstochen. Die schwarzen Pilze haben die Schränke angefressen, die Fenster, die Stühle, die orangefarbenen wachsen noch schneller, jetzt sehen sie schon aus wie Waldpilze. Jeden Tag gegen Mittag gehe ich in den Park, es ist still, draußen ist es so heiß, dass ich bis zum Abend niemandem begegne. Ich sitze im tiefen Schatten auf einer Bank, ich lese ein Buch, ich schreibe. Die Feuerwehrleute schlagen ein Fenster ein, sie gehen durch die Küche, sie sehen nichts vor sich, durch den Dampf schlagen sie sich zum Badezimmer durch, drehen das Ventil ab, öffnen die Fenster, der Dampf quillt nach draußen. Wir haben weiterhin keine Ahnung, niemand ruft uns an, niemand verlangt nach uns. Die Polizei sagt, an dieser Adresse sei niemand gemeldet. Die Temperatur in der Wohnung sinkt, aber das Leben wuchert weiter. Mama und ich gehe jeden Abend aus, trinken Bier am Ufer des Flusses, reden über das Geld, das wir nicht haben und wie wir es kriegen. Eines Tages, als wir durch die Stadt laufen auf der Suche nach einem Eis, bekomme ich eine Nachricht von einem Freund: melde dich, es ist dringend. Wir lassen dich bei Oma und fahren los. Es ist was mit der Wohnung, sagen wir, wir müssen sie reparieren, und wenn wir sie repariert haben, kommen wir dich holen. Wir fahren die ganze Nacht, zu lange für alle Fragen, die wir haben und die, die wir noch nicht haben, die aber, das wissen wir, kommen werden. Um uns die Zeit zu verkürzen, trösten wir uns: was immer uns erwartet, es kann nicht so schlimm sein, wie wir es uns vorgestellt haben. Gegen Morgen sind wir in der Stadt und kommen an die Adresse, an der es uns nicht gibt. Vor dem Haus erwartet uns der Hauswart; in den sechs Monaten, die wir hier wohnen, sehen wir ihn zum ersten Mal. Als er begreift, dass wir noch nicht in der Wohnung waren, kann er seine Aufgeregtheit nicht verbergen: er wackelt mit dem Kopf und grinst, als würde er sagen: wenn ihr wüsstet, was ich weiß. Schon vom Korridor her nehme ich den Geruch wahr, einen Geruch, den ich bis ans Ende meines Lebens, jedes Mal wenn ich auch nur einen Hauch von Feuchtigkeit erschnüffle, mit Verwesung in Verbindung bringen werde. Wir öffnen die Tür, zwei Bilder verschmelzen zu einem, und jetzt endlich begreifen wir: wir sind tot, schon seit Tagen.

 

***

 

Wir dringen in die Wohnung ein wie Einbrecher, mit Maske und Handschuhen. Solange wir die Feuchtigkeit nicht herausbringen, solange der Raum nicht desinfiziert ist, dürfen wir nicht all zu viel Zeit drinnen verbringen. Die Sporen sind in der Luft, unsichtbar und klebrig, sie lieben feuchte und finstere Stellen. Wenn wir sie einatmen, werden die Pilze in unseren Lungen Wurzeln schlagen und uns umbringen. Deshalb müssen wir schnell sein und effektiv: wir stürzen hinein, tun was zu tun ist, flüchten hinaus. Aber nichts geht nach Plan. Jedes Mal, wenn wir auf einen mit Erinnerung verbundenen Gegenstand stoßen – Zug- und Schiffskarten, gestohlene Hotelhandtücher, deine ersten Spielsachen – halten wir inne. Das meiste davon sieht intakt aus, müssen wir das wirklich wegwerfen? Aber dann wieder, wie können wir sicher sein? Wir haben gesagt, wir werden tun, was wir können, aber mit dem Unsichtbaren kämpfen? Ich telefoniere mit Toxikologen, erkundige mich nach Möbeln, Kleidung, Büchern (wegwerfen; bei neunzig Grad waschen; in die Gefriertruhe, an die Sonne damit, aufblättern). Und dann denke ich an dich und frage mich: werde ich mich jedes Mal, wenn du hustest, fragen, haben wir wirklich alles getan, was wir konnten? Schließlich werfen wir alles auf den Müll, was dahin gehört und was nicht (oder doch?). Mit geschlossenen Augen füllen wir große schwarze Säcke, einen nach dem anderen. „Das sind nur Sachen“ wird unsere Mantra. Wir werden sie ersetzen, wir werden die gleichen kaufen, bessere, schönere, andere, neue. Jetzt endlich können wir das verwirklichen, wovon alle träumen: wieder von vorn anfangen und über Nacht zu Menschen werden, die sie immer sein wollten. Wir werden die Wohnung noch schöner machen, noch größer, wir werden uns einen Hund anschaffen, ich werde Anzüge tragen, ich werde Keyboard lernen, ich werde ein Papa sein, mit dem es immer etwas zu lachen gibt, du wirst sehen.

 

***

 

Wir mieten ein Wochenendhaus auf einem Berg unweit der Stadt. Die Lage sagt uns nicht zu, es ist weit von zu Hause, aber wir haben keine Wahl, niemand sonst möchte uns eine Wohnung für nur ein, zwei Monate vermieten. Hier oben gibt es keine Heizung, und wir können nicht längere Zeit bleiben, selbst wenn wir wollten, aber es ist gut, es ist schön, friedlich, still, grün, und die Aussicht ist gut, von der Terrasse sehen wir die ganze Stadt. Und du bist wieder bei uns, wieder sind wir alle versammelt. Ganze Tage sind wir draußen, wir frühstücken auf der Terrasse, machen im Wald Spaziergänge, lauschen den Vögeln, sammeln Pilze, schnitzen unsere Namen in die Baumrinde, ich erzähle dir Geschichten.

Siehst du dort das Hochhaus, das mittlere von den dreien? Ganz oben ist unsere Wohnung. Die anderen haben einen Balkon, Onkel und ich haben eine Terrasse. Die Terrasse ist der Beobachtungsplatz, von dem wir die ganze Stadt wie auf dem Handteller vor uns haben. Jedes Mal wenn wir zum Spielen nach draußen gehen, ermahnt uns Papa, nicht weit weg zu gehen und keine Dummheiten zu machen, weil er uns mit dem Fernglas verfolgt.

Eines Sonntags nach dem Mittagessen, während im Wohnzimmer im ersten Programm eine Serie läuft, hören wir im Rücken ein seltsames Geräusch, als würde jemand an der Wand kratzen. Wir drehen den Ton leiser, um besser horchen zu können, und dann begreifen wir: das Kratzen kommt aus der Wand. Wir sind vor Aufregung wie elektrisiert, wir rütteln Papa wach, der auf der Couch döst: Papa, wach auf, wir haben einen Geist! Papa sagt, wir sollen ihn in Frieden lassen, wir sollen aufhören, Blödsinn zu reden, aber wir lassen nicht locker, bevor er sein Ohr nicht an die Wand gelegt hat und es selbst hört. Etwas ist in den Schornstein gefallen, sagt er, ein Vogel oder eine Ratte. Oder eine Fledermaus, sagt der Onkel. Lasst es in Ruhe, sagt Papa, es findet früher oder später hinaus. Die Tage vergehen, aber der Geist ist noch immer da. Eigentlich denke nur ich, dass es ein Geist ist, Onkel ist überzeugt, dass es eine Fledermaus ist, also nennen wir sie Zada. Den Namen geben wir ihr nach dem Affenweibchen aus Kapitän auf Großer Fahrt, der Serie, die wir gerade sehen. In der Nacht, wenn alle schlafen, stehle ich mich hinaus und rede mit Zada. Ich flüstere, damit ich nicht zufällig Onkel wecke; ich wage nicht daran zu denken, wie er mich aufziehen würde, wenn er mich hörte. Zada erzählt mir Geschichten vom Kapitän, vom Schatz der Schlangeninsel, von Aligator-Robotern und von Zombies, die in den Wracks am Meeresgrund lauern. Manchmal wird sie beim Erzählen so aufgeregt, dass sie stark zu kratzen anfängt und ich es mit der Angst kriege, dass sie alle in der Wohnung aufweckt. In der Schule glauben sie mir nicht, dass ich einen Geist im Schornstein habe, aber wenn ich sie mit nach Hause bringe, damit sie Zada hören, können sie es plötzlich nicht glauben. Sie fragen mich, wieso ich keine Angst habe, mit einem Geist zusammen zu wohnen. Ich habe überhaupt keine Angst, sage ich, und ich lüge nicht, ich habe wirklich keine Angst – bis zu dem Tag als ich begreife, dass aus dem Schornstein nichts mehr zu hören ist

 

 

 

 

 

    

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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