Prosa

Schwuchteln

OLJA SAVIČEVIĆ

Erzählung aus dem Band „Augustschnee“, erschienen 2008 im Verlag Voland & Quist.
Aus dem Kroatischen von Blažena Radas



 

Den Plan hatte ich schon in der Kirche geschmiedet; ich wusste, wo Vaters Jagdgewehr hing. Und geschossen hatte ich auch schon: auf eine Flasche oder um Katzen und Hühner zu erschrecken.

Wenn es den lieben Gott gäbe, woran ich immer mehr zweifle, würde er mir das bestimmt nicht durchgehen lassen, schließlich habe ich mir alles vor dem Altar ausgedacht, als der Pfarrer von Vergebung sprach. Das Einzige, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, war, dass ich nicht genauer auf Onkel Peka gezielt habe, weil meine Hand leicht zitterte.

Trotzdem, Peka, diesem alten Scheusal, habe ich eine Lektion erteilt. Und ich, ich werde schon zurechtkommen. In einem Jahr bin ich mit der Schule fertig, dann hau’ ich ab nach London. Lebt wohl, Kakerlaken!

 

Vanjac war einmal in London gewesen und erzählte, was er dort alles gesehen hat und dass sich dort ein Schwarzer und ein Weißer an den Händen hielten.

„David, warum hielten die zwei sich an den Händen?“, fragte ich meinen Bruder als Vanjac gegangen war.

„Sie kämpfen gegen Rassismus!“,lachte David, und ich wusste, dass er sich über mich lustig machte.

Mama war in der Küche und putzte den Backofen. Sie kniete davor und atmete schwer.

„Mama, warum hielten sich der Schwarze und der Weiße in London an den Händen?“

„Wer hat dir das erzählt?“

„Vanjac.“

„Dann sag Vanjac, er hätte mal besser in London bleiben sollen!“

Papa wusch im Hof das Auto. Es war der erste sonnige Sonntag nach einem langen Winter. Im Garten blühten die Kirschbäume und es war schön. David bereitete das Seifenwasser vor.

„Papa, warum hielten sich der Schwarze und der Weiße in London an den Händen?“

„Weil es Schwuchteln sind, stimmt’s, David?“

„Hmmhm.“

 

Ich wusste, was eine Schwuchtel war. Ein Aidskranker. In unserem Ort gab es einen. Petas hatte uns zu seinem Wohnblock geführt. Er lebte im ersten Stock.

„Wer macht’s?“

„Ich!“

Eigentlich bin ich kein Schlägertyp und werfe nicht mit Steinen auf Fensterscheiben, doch diesmal traf ich. Für David und Vanjac. Damit niemand denkt, mein Bruder sei ein Aidskranker.

 

Vanjac mochte ich, weil er mir tolle CDs brannte, komische Geschichten erzählte und weil er blaue Leder-Turnschuhe hatte.

Die waren wirklich sehr gut. Sie hatten einen gelben Streifen. Er sagte, er würde sie mir schenken, sobald ich Schuhgröße 43 hätte. Er würde sowieso Abitur machen und dann diesen miesen kleinen Ort verlassen. Lebt wohl, Kakerlaken! Das sagte er.

Ich aber fand unsere kleine Stadt schön. Viel Grün, die Männer sind stark, die Frauen hübsch, das Klima mild und das Meer war mit dem Auto nicht weit weg. Es gab viele Cafés, in die junge Leute gingen und eine Disco. Manche lebten in Neubauten, aber es ist schöner, einen Garten zu haben und Tiere zu halten. Das habe ich ihm alles aufgezählt. Er aber meinte, er könne es kaum erwarten, zu gehen, er müsse nur etwas Geld sparen. Ich stellte mir Vanjac vor, wie er in einer großen Stadt spazieren ging, wie im Fernsehen, an Schaufenstern vorbei mit Nike-Schuhen und CDs.

„Papa wird David nie gehen lassen!“, platzte ich heraus.

„Als ob der was zu melden hätte!“, sagte Vanjac und spuckte ziemlich weit.

Auch ich spuckte, aber nur schwach.

Ich wollte nicht, dass David in diese Stadt ging mit Turnschuhen, ich wollte, dass er bei uns blieb. Ich wollte, dass er und Vanjac, wenn sie schon gehen mussten, mich mitnahmen, doch daran dachten sie gar nicht. Sie sagten: Geht nicht, du hast noch nicht mal die achte Klasse abgeschlossen. Das sagten sie. Vielleicht wollten sie sich auch an den Händen halten, wie der Schwarze und der Weiße, und ich sollte es nicht sehen. Das sagte ich Papa, ohne mir was dabei zu denken. Der sorgte dann dafür, dass David in die Armee musste, sobald er die Schule beendet hätte.

 

Und dann, Anfang des Sommers, waren David und Vanjac verschwunden. Wir suchten sie zwei Tage lang überall.

Jetzt schweigen alle, aber es war in den Zeitungen und im Fernsehen. Wir fanden sie am Stadtrand, im Feld, wie sie an Kirschbäumen hingen. Alle wussten, dass ich sie zuerst gesehen hatte, aber sie wussten nicht, wie es gewesen war. Die Kirschen waren gerade reif geworden, die Blätter noch saftig grün, das Gras war hoch und gelb. Zuerst sah ich Vanjac’ Turnschuhe, die blauen mit den gelben Streifen, wie sie zwischen den Zweigen baumelten und rief: Vanja, Vanja, zufrieden, sie endlich gefunden zu haben. Ich dachte, sie pflückten Kirschen. Aber dann schlug mir der andere Körper entgegen. Es war David, mein Bruder. Er hing kalt und blau und kreidebleich da, als ob er sich vor etwas ekelte oder noch schlimmer.

 

Ich weiß nicht, warum sich alle um mich Sorgen machten, als ob ich mich erhängt hätte. Ich weinte nicht viel, nur, als ich sie gefunden hatte, aus Angst, denn ich hatte bis dahin noch nie tote Menschen gesehen. Bloß reden wollte ich mit niemandem. Nachts, vor dem Einschlafen, bemühe ich mich, David zu sehen, ich will, dass er mir im Traum erscheint, damit ich ihm erklären kann, dass ich Papa nicht sagen wollte, dass er von zu Hause abhauen wollte, dass es mir Leid tue, dass er mir fehle. Doch wenn ich einschlafe, träume ich gar nichts, nur manchmal von Vanjas Turnschuhen, wie sie zwischen den Kirschbaumzweigen hervorblitzten, als hätte er sich wie ein Star in der Baumkrone versteckt. Ich nehme sie ihm ab und verschwinde.

 

Tante Rosa und Peko kamen, um Mama ein bisschen zu helfen. Sie nahm ständig Valium und saß da wie eine hölzerne Madonna. Papa sah ich gar nicht, er versteckte sich in der Scheune, dort suchte er Beschäftigung, schleifte und hobelte, was das Zeug hielt. Rosa kochte für uns und Peko philosophierte. Alle dachten über David nach, das wusste ich, aber keiner erwähnte ihn. Nur Peko, der Langweiler, sagte immer wieder:

„Er war ein guter Junge, bloß in schlechter Gesellschaft.“

Dann verstummten alle. Und so ging es eine Weile. Ich schwieg auch, aber innerlich bebte ich.

 

Am Morgen, bevor wir zur Kirche gingen und auf den Friedhof, nahm Rosa den Kommunionsanzug heraus, den ich von David geerbt hatte und bürstete ihn ab. Dabei fingen wir beide an zu weinen. Sie umarmte mich, sie war weich und heiß, ihr Haar roch nach Frittiergebäck, und das stimmte mich irgendwie traurig.

Peko kam ins Zimmer, um uns zur Eile zu ermahnen. Ich zog mich an, und er beschwichtigte Rosa im Flur, leise, aber hören konnte ich es trotzdem:

 „Komm, beruhige dich, vielleicht ist es ja besser so, wer hat schon was von so einem Leben.“

 

Sobald wir nach der Beerdigung nach Hause kamen, ging ich das Gewehr holen, dann in den Hof, zielte auf den Onkel und drückte ab. Von dir habe ich genug, du Ekel! Als mich die Tante und Mama erblickten, schrieen sie sofort auf, und Vater stürzte sich auf mich. Ich wollte ihn nicht töten und dafür ins Gefängnis, sondern bloß in den Hintern oder ins Bein treffen. Doch mein Arm hatte gezittert und die Kugel schlug im Baum neben Peko ein.

Papa nahm mir das Gewehr weg und hob seinen kräftigen Arm als wollte er zuschlagen; für alle Fälle zog ich den Kopf ein. Doch er legte nur seine Hand auf meine Schulter und sagte immer wieder:

„Mein Sohn, mein Sohn.“

 

Übersetzung: Blažena Radas

 

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Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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