Prosa

Goran Ferčec: Hier sind keine Wunder angesagt

Goran Ferčec wurde 1978 in Koprivnica geboren. Er ist Schriftsteller und Dramaturg. 2015 wurde im Zagreber Jugendtheater (ZKM) sein Text „Pismo Heineru M.“ („Brief an Heiner M.“) aufgeführt. Der Text „Radnice u gladovanju“ („Arbeiterinnen am Hungern“) wurde 2014 innerhalb des Projektes „Vor den Hunden“, in Koproduktion des fringe ensemble aus Bonn und der Schaubühne Lindenfels aus Leipzig, aufgeführt, sowie 2017 auch im ZKM. Er ist Autor der Textvorlage für die Performance „Ispravci ritma“ („Rhythmuskorrektionen“), einer Koproduktion der Performancegruppe BADco. und des Kroatischen Volkstheaters in Zagreb. Er ist Autor des Romans „Ovdje neće biti čuda“ („Hier wird es kein Wunder geben“) (2011), des Essaybands „Priručnik za jučer“ („Handbuch für gestern“) (2015), und der Sammlung von Theaterstücken „Prekovremeni rad“ („Überstunden“) (2018).



 

Auszug aus dem Roman: „Hier sind keine Wunder angesagt“.

Aus dem Kroatischen von Mascha Dabić.

 

 

Das ist ein Haus. Das ist ein Hof. Das ist ein Haus in einem eingezäunten Hof an einem Nachmittag. Vor dem Haus liegen zwei Männer in Strandstühlen. Alles ist soweit klar oder ließe sich in den nächsten Minuten aufklären. Vater lässt es sich dennoch nicht nehmen, eine Frage zu stellen, auf die Bender nur schwer eine Antwort finden kann. Mit einer kehligen, kaum vernehmbaren Stimme fragt Vater: „Wo bin ich?“„Du bist in der Sonne eingeschlafen“, antwortet Bender. „Woher haben wir diese Strandstühle?“, fragt Vater. „Aus der Rumpelkammer hinter dem Haus“, antwortet Bender. „Ich habe etwas geträumt“, sagt Vater. Bender fragt nicht was. Vater sagt: „Ich habe von deiner Mutter geträumt. Ich glaube, ich habe ihre Stimme gehört.“

„Das sind die Kinder“, sagt Bender. Vater sagt: „Ich habe nicht eine Stimme gehört,

die ihre hätte sein können, sondern wirklich, wirklich, wirklich ihre Stimme.“ „Das

liegt an der Sonne“, sagt Bender. Vater sagt: „Die Sonne hat uns im Sudan nicht

gestört. Kleine schwarze Kinder hängten sich an deine Mutter und baten um Süßigkeiten. Unter ihnen sah sie wie eine Königin aus. Unter ihnen sieht jeder wie

ein König aus.“ „Unter wem?“, fragt Bender. Vater wiederholt den Satz: „Unter

den Schwarzen sieht jeder wie ein König aus.“ Bender fragt: „Woher weißt du das?

Mutter und du, ihr seid doch nie im Sudan gewesen.“ Vater verstummt, später greift

er den Satz wieder auf: „Wir sind nie im Sudan gewesen.“ „Nein“, bekräftigt Bender.

„Irgendwo habe ich deine Mutter als Königin gesehen. Hochgewachsen, schlank, unnahbar“, sagt Vater. „Du hast Leni Riefenstahl im Fernsehen gesehen“, sagt Bender. Beide schweigen. Vater fragt: „Wer ist diese Leni Riefenstahl?“ Bender

antwortet: „Sie war eine Zeitlang im Sudan. Wir haben gestern oder vorgestern eine Doku über sie angeschaut.“ Vater sagt: „Ich erinnere mich nicht.“ Bender sagt: „Ist nicht wichtig.“ Vater greift nach den Zigaretten. Bender hebt die Zigarettenschachtel

vom Boden auf und reicht sie dem Vater. Vater holt eine Zigarette heraus und fragt: „Woher hast du die Zigaretten?“ Bender sagt: „Von einem jungen Mann aus dem Dorf.“ Vater fragt: „Ist der junge Mann einer von uns?“ Bender antwortet:

„Ich weiß es nicht“. Vater fragt: „Wie lautet sein Nachname?“ Bender antwortet:

„Das weiß ich auch nicht.“ Vater verstummt und steckt die Zigarette in seine Hosentasche. Bender fragt: „Warum rauchst du nicht?“ Vater sagt: „Ich habe Durst.

Die Zigarette macht es nur schlimmer. Als hätte ich zu viel Salziges gegessen.“

Bender stößt eine unregelmäßige Rauchwolke aus, die einen Augenblick lang reglos

in der Luft verharrt, bevor der Wind mit einem Schlag hundert kleine Gespenster

daraus macht. Vater starrt auf den Punkt, an dem der Wind seine Stärke zur Schau gestellt hat, dann wandert sein Blick zu den Wipfeln der Kieferbäume, die vor dem Haus wachsen. Die Sonne spendet keine Wärme mehr, sie sorgt lediglich dafür, dass die Beziehungen zwischen den Dingen sichtbar bleiben. Vaters Schatten vom Strandstuhl aus ist kürzer als Benders. Die Bäume sind am höchsten, das Haus ist niedriger, die Menschen sind noch ein wenig niedriger, die Hunde sind die allerniedrigsten. Von den höchsten Bäumen und den niedrigeren Menschen geht die höchste Bedrohung aus. Vaters Augen sind wie bei einem Blinden zusammengekniffen. Er versucht, seine Aufmerksamkeit auf einem erhöhten Punkt zu konzentrieren, wobei niemand bemerken soll, was es ist, das ihn so interessiert. Bender schaut absichtlich zum Vater, der irgendetwas anschaut, und versucht, den Punkt zu finden, der Vaters Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Kiefer, deren Wipfel

Vaters Blick fixiert, ist über zehn Meter hoch. Sollte sie fallen, würde sie dem Hausdach und all jenen, die sich in diesem Moment im Haus aufhielten, irreparablen

Schaden zufügen. Das ist die einzige Schlussfolgerung, die Bender erwähnenswert

findet. Vater hebt seinen Arm und streckt den Zeigefinger aus. Er zeigt auf den Punkt, der seine Aufmerksamkeit gefesselt hat. Vater sagt: „Dort zwischen den Zweigen der höchsten Kiefer, dieser schwarze Punkt zwischen den Zweigen, das muss eine Eule sein. Sie muss vom Tagesanbruch überrascht worden sein, jetzt wartet sie reglos auf die Nacht.“ Bender schaut in die Richtung, in die Vater zeigt, und erblickt dort einen unbeweglichen dunklen Fleck. Vater wiederholt: „Es muss eine Eule sein, sonst kann da nichts anderes sein, auf der Spitze der höchsten Kiefer.“ Vaters Wunsch, Recht zu behalten, macht Bender nervös. Bender überlegt, ob Vater ihn womöglich provozieren will. Er könnte dem Vater entgegnen, dass es doch ganz egal sei, ob auf der Spitze des Kieferbaums tatsächlich eine Eule sitze. Bender steht vom Stuhl auf, geht auf den Baum zu und schaut in den Wipfel. Vater ruft ihm von hinten zu: „Pass auf, dass du die Eule nicht erschreckst!“ Bender ignoriert die väterliche Ermahnung. Aus der Nähe sieht er, wie sich das, was wie eine schlafende Eule ausgesehen hat, in eine Formation von drei Zapfen verwandelt, die unter einem bestimmten Winkel betrachtet tatsächlich wie eine Eule aussehen könnten, eine Eule, die auf dem allerhöchsten Ast von der Morgendämmerung überrascht worden ist. Bender schaut zum Vater, vollführt mit der Hand eine vage Geste und sagt: „Ja, es ist eine Eule. Sie wartet darauf, dass es dunkel wird, damit sie weiterziehen kann.“ Vater nickt mit dem Kopf, greift nach der Zigarettenpakkung, holt eine Zigarette heraus, zündet sie an und lässt die Masse seines Körpers in den Baumwollteil des Strandstuhls sinken. Vater sagt, so leise, dass Bender ihn kaum verstehen kann: „Die Eulen ließen sich auch schon vor dem Krieg auf dieser Kiefer nieder, nachts stießen sie ihre Uhu-Rufe aus, was deine Mutter in den Wahnsinn treiben konnte. Manchmal machte sie das Fenster mitten in der Nacht auf und bewarf die Kiefern mit beliebigen Gegenständen. Ganz so, als wären die Eulen extra ihretwegen hier. Dabei waren sie wegen der höchsten Kiefer hier, Eulen lassen sich nur auf den höchsten Bäumen nieder.“ Vater macht eine Pause, zieht an seiner Zigarette und ruft Bender zu: „Sieh mal nach, ob sie jung ist?“ Bender schaut auf den Baumwipfel und schätzt ab, dass die drei Zapfen wie eine junge Eule aussehen. Er dreht sich um und bekräftigt: „Ja, sie ist jung.“ Vater nickt. Vater wirkt unwiederbringlich verloren in der Zeit, so wie er in seinem Strandstuhl daliegt. Einige zottelige Haarsträhnen sind drauf und dran, sich vom Hinterkopf zu lösen und davonzuflattern. Hartnäckig streicht Vater sie glatt, bis sie auf dem verbeulten Schädel kleben. Der weiche Stuhl verschlingt allmählich Vaters Körper. Jedes Mal, wenn Vater den Rauch der Zigarette ein und ausatmet, schiebt er das Verschlingen für einige Augenblicke hinaus. Hoffentlich hält die Zigarette lange genug vor, denkt Bender, kehrt zu seinem Stuhl zurück und setzt sich hin. „Woher hast du die Strandstühle?“, fragt Bender. Vater sagt: „Die Stühle sind schon immer im Schuppen gewesen, man muss sie nur hinaustragen, wenn die Sonne scheint.“ Bender sagt:

 

„Ich kann mich an die Stühle nicht erinnern.“ Vater antwortet: „Die Stühle sind hier, seit wir die Sommer hier verbringen.“ Bender sagt: „Ich kann mich von keinem Sommerurlaub an die Stühle erinnern.“ Vater erwidert: „Das ist nicht mein Problem. Der Schuppen ist voller Sachen vom Sommerurlaub.“ Bender fragt: „Was für Sachen?“ Vater antwortet: „Schau selbst nach. Heute ist es wirklich sonnig.“ Vater zündet sich eine neue Zigarette mit der Glut der vorangegangenen an. Bender steht auf, legt seinen Strandstuhl zusammen und trägt ihn zum Schuppen. Die Überquerung des Hofs dauert länger, als es dauern würde, wenn der Überquerende wüsste, was ihn erwartet. Eine unsichtbare Kraft verlängert die von Bender eingeschlagene Diagonale. Ihm kommt es so vor, als würde Vater ihm etwas zurufen, aber der Wind schlägt jedes zweite Wort in den Norden. Die Kraft. Seite. Die Hartnäckigen. Ist. Seite. Die Hartnäckigen. Bender spürt, wie Vaters Blick sich in seinen Rücken bohrt. Mit der Hand stößt er die Tür auf und betritt den Schuppen. Es ist hell genug, Bender hat keine Angst hineinzugehen. Der Schuppen ist nicht größer als andere Schuppen. Er sieht so aus, als würde er bald Brennholz abgeben. Der Schuppen ist voller Dinge, die sich in ihrer Nutzlosigkeit gegenseitig in Abhängigkeit versetzen. Zerschlagene Fensterrahmen. Räder. Eimer. Schaufeln. Teller mit dem Logo des Berghotels. Autoreifen. Stühle. Fleischhaken. Ein Hirschgeweih auf einem Holzbrett. Ein Brühkessel für Schweine. Eine Mausefalle. Ein Kassettenrecorder. Ein Wetzstein. Eine Wasserpumpe. Eine Baumsäge. Eine Motorsäge. Die erste Sense zum Grasmähen. Eine Waschmaschine. Der erste Fernseher. Die zweite Sense zum Grasmähen. Ein Elektrogrill. Die dritte Sense zum Grasmähen. Eine Badewanne für Kinder. Der zweite Fernseher. Strandstühle. Ein Seil zur Strangulierung von Nagetieren. Ein Ledergürtel. Ein paar Küchenger.te. Kinderspielzeug. Ein Topf zum Auskochen von Schweinefett. Eine Wanduhr in Form einer überdimensionierten Armbanduhr. Ein Föhn. Ein weißer Sonnenschirm mit dem aufgedruckten Namen des Berghotels. Ein roter Sonnenschirm. Fotoalben. Ein grüner Sonnenschirm mit dem aufgedruckten Namen des Berghotels. Kartonschachteln mit Werbeaufschriften. Ein Modell des Eiffelturms aus Metall, dreißig Zentimeter hoch. Eine WC-Muschel aus Porzellan. Scheren für Ziersträucher. Ein Sessel. Aufeinander gestapelte Matratzen. Hochzeitsfotos. Flechtkörbe. Ein Buch über Tito. Ein Zeltflügel mit Tarnmuster. Ein Buch über Arbeitsschutz. Ein Buch über den Bund der Kommunisten Jugoslawiens. Ein Buch über die Hasenzucht. Eine verdreckte und abgewetzte kroatische Fahne. Bender legt den Stuhl auf einem Platz ab, der ihm ungenutzt scheint und tritt aus dem Schuppen. Er schaut dorthin, wo Vater sitzt, sieht aber nur den Stuhl. Der Zigarettenrauch bestätigt, dass Vater noch immer dort ist. Bender lässt seinen Blick zum Wipfel der Kiefer schweifen. Er versucht, die Zapfen zu finden, die einer jungen Eule zum Verwechseln ähnlich sehen, aber vergeblich. Vater legt den Arm über den Stuhlrand und greift nach der Zigarettenpackung. Bevor Vater die Zigarettenpackung ertasten kann, schließt Bender die Tür des Schuppens, dreht sich um und steuert auf die Hofgrenze zu. An eini gen Stellen stößt er mit dem Fuß auf frisch ausgegrabene Maulwurfshügel, deutet dies aber nicht als Zeichen stehenzubleiben. Der Hof ist umzäunt von Holzpfosten, zwischen denen ein Drahtnetz gespannt ist. Bender erreicht die Außengrenze des Hofs, tritt über den Draht, der unter seinem Gewicht nachgibt, und macht sich auf den Weg zum Wäldchen. 

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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