Prosa

Slađana Bukovac: Den, der schreibt, gibt es nicht

Slađana Bukovac, 1971 in Glina geboren, absolvierte ein Studium der Kunstgeschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Zagreb. Sie wurde ins Deutsche und Ungarische übersetzt. Bisher veröffentlichte sie die Romane „Die Reisenden“, (2003; erhielt die Preise Slavić und Kiklop für Debuts; Deutsch 2006 beim Kitab-Verlag, Klagenfurt); „Rod avetnjaka“ („Rasse der Gespenster“, 2008; mit dem Fran Galović Preis ausgezeichnet); „Stajska bolest“ („Stallkrankheit“, 2016), der es auf die Shortlist der zwei wichtigsten kroatischen Literaturpreise für Romane schaffte: den T-portal Preis und den Fric Preis; sowie 2005 den Gedichtband „Nijedan pauk nije savršen“ („Keine Spinne ist vollkommen“).



 

Auszug aus dem unveröffentlichten Roman „Den, der schreibt, gibt es nicht“.

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof.

 

Einmal hatte ich einen Hund, aber das war nur für wenige Stunden. Bei der Rückkehr von einer Spätschicht als Kellner hatte mein Vater einem Betrunkenen einen kleinen Boxerwelpen abgenommen, um mir eine Überraschung zu bereiten. Er roch nach Milch und atmete Gutmütigkeit; totale hilflose Gutmütigkeit, die tiefen Trost schenkt, wegen dem ich seit jeher ein starkes Bedürfnis nach Tieren hatte. Meine erschöpfte und damals ewig wütende Mutter trieb das zum Wahnsinn. Sie beging ein erzieherisches Unrecht, wie sie in jeder Erziehung und in jeder Kindheit viele passieren, nur dass sie selten so traumatisch und irreparabel sind, dass man sie jemals wieder vergessen noch verwinden kann. Auf mich wälzte sie die Verantwortung ab, in dem sie ultimativ verlangte, dass ich den Hund irgendwohin bringe. Er durfte nur die wenigen Stunden im Flur bleiben, die noch bis zum Morgen fehlten. Und das war alles. Der Welpe in dem engen Durchlass von der Eingangstür bis zum Wohnzimmer, auf einem länglichen Teppich, dem sogenannten „Läufer“. Der Morgen, der immer näher kommt. Das Tier, das mir auf eine Weise gehört, dass ich es so schnell wie möglich loswerden, den Fehler korrigieren muss, dass es mir zugeteilt wurde.

Wenn ich zu rekonstruieren versuche, wie alt ich damals war, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass ich damals zwischen elf und dreizehn gewesen sein muss. Genau genommen glaube ich nicht, dass ich dreizehn war, ich muss elf oder zwölf gewesen sein. Ich würde schrecklich gern das genaue Alter präzisieren, in dem ich mich befand, als mir jemandes Leben in die Hände vertraut wurde. Ich setzte mich auf mein Fahrrad mit dem Korb vorne, in dem der hellgelbe Welpe mit den weißen Tatzen und dem weißen Fleck auf der Stirn saß. Ich machte mich auf den Weg zu meiner Oma aufs Dorf. Das war die Strecke, auf der wir lebten, zwischen dem Dorf und der Miniaturstadt. Es gab keine dritte Örtlichkeit (...)

Es gab keine Zeit, um eine beste Lösung zu finden; alles schien eine Lösung zu sein, außer sich Mutters Ultimatum zu widersetzen. Ein Sich-Widersetzen war nicht möglich, nicht weil mir der Mut dazu fehlte, sondern weil ich mich meiner Empfindsamkeit schämte. Es war mir unangenehm wegen meiner Schwäche, es schien mir schändlich, ja, unnatürlich zu sein, zu einem Tier eine Beziehung zu haben, wie sie ausschließlich für Menschen reserviert ist. Das galt es um jeden Preis zu verbergen, den Hund diskret, unauffällig, zu beseitigen; sich nicht zu unterscheiden, nicht zu insistieren. Eine solche Art Mitgefühl, einem Tier gegenüber, einem inferioren, ungeschützten, wirkte wie eine spezifische Perversion. Ich war nicht bereit das auszusprechen, mich einzusetzen. Mutter war zu erschöpft, ihre Geduld war vollständig aufgebraucht. Es galt zu gehorchen, ihr zu Willen zu sein. Der Hund war mein Problem, meine Krankheit, meine unangepasste Zeit, mein schändliches Geheimnis. Die Empfindsamkeit gegenüber Tieren gehörte zu den Dingen, die schon in den ersten Klassen der Volksschule überwogen, es war das eines der Themen des Erwachsenwerdens. Einmal habe ich mich, noch in der Vorschule, mit meiner Mutter um eine Pflanze geschlagen, ich hatte meine Pflanze in eine Blechdose gesetzt, die sie in den Müll geworfen hatte. Sie schlug mich, dass ich aufhören solle zu brüllen, ich trommelte mit voller Kraft mit den Fäusten auf sie ein. Die Pflanze war legitim, ihretwegen war es erlaubt zu kämpfen. Hätte ein Tier eine solche Reaktion ausgelöst, wäre der totale Wahnsinn entstanden. Tiere waren etwas, mit denen man lernen musste umzugehen, sie hatten einem Zweck zu dienen. Pflanzen durften sowohl essbar als auch dekorativ sein. Kleine Mädchen konnten tief an ihre Pflanzen gebunden sein, sie begießen, Feldblumen auf der Wiese pflücken und sie zu ungeschickten Sträußen flechten. Hunde, Katzen, nutzlose Geschöpfe, denen man Futter besorgen musste, noch ein Esser mehr, ihre schrecklich durchdringenden Augen, das Fell, das an der gerade gekauften Couch gewetzt wurde, an der billigen, aber ordentlichen Einrichtung, dem ersten Versuch in der Stadt zu leben, alles das war genau genommen schrecklich. Meine Mutter versuchte alles sauber zu halten, sie hatte einen derartigen Sauberkeitsfimmel, dass alles andere untergeordnet war, nebensächlich. Ihr komplettes psychophysisches Gleichgewicht hing an dem dünnen Faden der Sauberkeit, das war alles, auf was sie zählen konnte, Teppiche, auf denen sie barfuß ging, das Aufsammeln verirrter Krümel oder kleiner Fäden. Ununterbrochen war sie dabei sich zu bücken, um etwas zu erkennen, etwas vom Boden zu entfernen, das nicht zur uneben gestampften Erde gehörte wie in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Es gab ein Parkett, ein altes Buchenholz-Parkett, das in einem der beiden Zimmer glänzte, abhängig von dem Augenblick, in dem die Sonne auf ihrem Weg von Osten nach Westen momentan positioniert war.

Es galt das Tier zu entfernen. In erster Linie sich für Mutter zu entscheiden, die Menschen zu wählen. Wenn der Welpe anfing zu quiemen, hielt ich an, streichelte ihn, flüsterte, dass alles in Ordnung sein werde. Wir fahren zu einem Raum der Natur, der Weite. Irgendwo musste es einen Platz, eine Möglichkeit geben. Es gab Heuschober, breite Wiesen. Das Erbarmen des Himmels, unabsehbare Zufälligkeiten. Das Tierchen zitterte, obwohl es Mai oder Juni war. Damit hatte ich nicht gerechnet; ich hatte nichts mitgenommen, worin ich es hätte einwickeln können.

Heute glaube ich, dass sich mein Vater auch einen Hund gewünscht hätte und dass er ihn deshalb wie ein misslungenes Überraschungsgeschenk eingeschmuggelt hatte. Er hat diesen leisen, unerlaubten, leichtsinnigen Wunsch mir unterschieben, sich hinter meiner Freude verstecken wollen, er hatte sich nach der Immunität der Kindheit gesehnt. Ja, mein Vater hatte sich genauso geschämt, er hatte die Hand nach dem Welpen in dem unversorgten Wurf ausgestreckt, er hatte es nicht ausgehalten, er hatte es nicht ertragen können nur vorüberzugehen. Aber das war nicht etwas, was zu verteidigen er imstande gewesen wäre; ich nehme an, dass er sich der Geste und des Wunsches geschämt hat, er hat sich zurückgezogen, sowie er sich immer zurückgezogen hat, wenn sich vor ihm jemandes Ausschließlichkeit ausbreitete, ein besserer Zugang zur Realität, zum Praktischen, als der, den er selber besaß. Er schwieg, er verschwand. Das war das Übliche; er zog sich zurück, er verriet mich. Er hätte die Dinge in Bewegung setzen können, aber seine Kraft war ausgesprochen kurzzeitig. Nach dem Anfangsimpuls, dem Mitgefühl, das ihn überkommen war, musste jemand anders die pragmatische Seite übernehmen, die unangenehmen Dinge erledigen. Beiden gelang uns in dieser Frage die Höhepunkte der eigenen Angepasstheit zu demonstrieren.

Meiner erfolgte nicht lange nach der Episode mit dem Hund, als uns im Dorf eine Kuh krepierte. Ein junges, temperamentvolles Tier mit einem gebrochenen Horn, das es sich gebrochen hatte, als es hinterm Haus kopfüber einen Abhang hinuntergefallen war.

Der Veterinär war nicht rechtzeitig gekommen, als es zum ersten Mal kalbte, es assistierte ein älterer patriarchaler Nachbar, zusammen mit der Frucht riss er ihm die Eingeweide heraus. Dann levitierte sie, aufgehängt an Stricke, man wartete, dass die Eingeweide an ihren Platz zurückkehrten sollten, so als wäre die ganze Sache völlig mechanisch, als würde es reichen, den Inhalt in sein Gefäß zurückzutun. Sie krepierte, und eine allgemeine Trauer breitete sich aus, eine ökonomische Trauer, die sich in Kannen Milch umrechnen ließ, und ich, im Stall schluchzend, bis mein Gesicht ganz geschwollen war und mein Haar zerrupft wie in den uralten Klageliedern, ich war die Königin dieser erwünschten, gesellschaftlich verantwortungsvollen Trauer, die ausschließlich aus der Trauer hervorging, und aus dem Grauen, dass es möglich war, ein so liebliches Geschöpf mit braunem Fell, das an der Vorderseite der Schnauze unerwartet weiß wurde, ein Geschöpf mit komisch ungleichen Hörnern, dessen Kauen meiner Kleidung am Wäschestrick nur durch ein verrücktes Schütteln des Kopfes, eine Aufforderung zum Spiel, Ausgelassenheit, Abwerfen aufgezwungener Skrupel, so grauenvoll zu zerstückeln.

Dieselbe Angepasstheit zeigt mein Vater Jahre, Jahrzehnte später, in der Kriegszeit. In der Stellung, die ihm zugeteilt war, gelingt es ihm, ein Reh zahm zu machen. Es lebt in Symbiose mit verlassenen Hunden, die er aus Militärkonserven füttert. Gemeinsam kommen sie auf Zuruf zu ihm gelaufen; gemeinsam schlafen sie, die Wärme sparend. Er schafft dieses kleine Wunder, die Einheit des Unterschiedlichen. In einer Welt, die nach Pulver stinkt, und nach Tod.

Als er mit dem Boot über den breiten, gespenstisch faulen Fluss zu einem Urlaubswochenende übersetzt, kochen die anderen Soldaten ein Paprika-Gulasch. Es war ein Scherz, eine kleine Soldatengrobheit. Eine Art und Weise, die Zeit zu verkürzen, die steht, in ihre kalte, glatte Oberfläche Kerben einzuschneiden. Vater reagiert nicht; das ist ein freundschaftlicher, intimer Schabernack, echt wie ein Mit-der-Hand-auf-den-Rücken-Klopfen, eine Neckerei unter denen, die die Uniform, die Erfahrung, die Mannhaftigkeit und das Trauma teilen. Er ist nicht bloßgestellt, er kontrolliert sich, er obsiegt. Er kann sich in jemand anders verwandeln, in gleich wen, in den amorphen Körper eines dunklen Kollektivs, einen Körper geblendet von einer Unzahl miteinander verflochtener Körper, von vereinheitlichtem Pulsschlag, der den Sieg erwartet, Gerechtigkeit, den Tod.

Das Fahrrad, der Korb. Angst um das kleine entkräftete Tier, meine Füße, die die Pedale treten, die Hände am Lenker. Mutters Befehl, mein Wunsch, ein Leben zu retten, das sie nicht toleriert. Meine Eltern, einzeln so speziell, Gegenstand meiner bedingungslosen Liebe, völlig synchron in diesem Verbrechen, ich spüre sie immer noch im Rücken, als würde ich den elastischen Faden einer Spinnwebe hinter mir her ziehen, die sich so in die Länge streckt, dass sie zum Schluss reißt, sich leblos aufhängt am trostlosen Weiß der Decke.

 

Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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