Maša Kolanović wurde 1979 in Zagreb geboren. Sie lehrt Neuere kroatische Literatur an der Abteilung für Kroatistik der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Seit 2017 leitet sie das Projekt „Ökonomische Grundlagen der kroatischen Literatur“. Sie veröffentlichte zahlreiche kürzere wissenschaftliche Arbeiten, sowie das Sachbuch „Udarnik! Buntovnik? Potrošač… Popularna kultur i hrvatski roman od socijalizma do tranzicije“ („Held der Arbeit! Rebell? Verbraucher… Populäre Kultur und der kroatische Roman vom Sozialismus bis zur Transition“) (2011). Sie ist Herausgeberin der Sammelbände „Komparativni postsocijalizam: slavenska iskustva“ („Komparativer Postsozialismus: slawische Erfahrungen“) (2013) und „The Cultural Life of Capitalism in Yugoslavia: (post)Socialism and Ist Other“ (Palgrave Macmillian, New York, 2017). Sie veröffentlichte den Erzählungsband „Pijavice za usamljene“ („Wirbelwinde für Einsame“) (2001), den Roman „Sloboština Barbie“ (2008), die Prosa „Jamerika: trip“ (2013), sowie den Erzählungsband „Poštovani kukci i druge jezive priče“ („Sehr geehrte Insekten und andere unheimliche Geschichten“) (2019).
Auszug aus der Erzählung „Lebendig begraben“.
Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof.
Der letzte Wunsch meiner Tante war, dass wir sie am Tag nach der Beisetzung dreimal am Handy anrufen, das zusammen mit ihr beerdigt werden würde. Am Morgen, zu Mittag und gegen Abend, so hatte sie mit ihrer zittrigen Hand auf ein Stück Papier geschrieben, das uns zusammen mit ihren persönlichen Dingen im Altersheim in Pile[1] erwartete. Mehr als den Tod fürchtete sie, lebendig begraben zu werden, und von dieser Angst war sie in den letzten Jahren besessen, seit sie völlig immobil geworden war. Vor gut hundert Jahren war angeblich eine entfernte Verwandte von ihr auf Boninovo[2] lebendig begraben worden, unmittelbar nachdem das Bordell in einen Friedhof umgewandelt worden war.
Das Dahinvegetieren im Heim und das Den-ganzen Tag-eigenen-Gedanken-Überlassensein ließen der Fantasie offensichtlich genügend Raum, in dieser Richtung zu wuchern. Mein Bruder und ich blieben noch diesen einen Tag nach der Beisetzung in Dubrovnik, um ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Wir wollten niemanden von der Dubrovniker Verwandtschaft bitten, diese Verrücktheit zu tun. Die Tante hatte keine eigenen Kinder, sie war nie verheiratet gewesen, und die übrigen Verwandten waren im Großen und Ganzen von der kühlen Sorte, von der du nichts erwartest und zu der du selbst im jenseitigen Leben auf Distanz bleibst. Unsere Mutter war schon so hinfällig, dass sie nicht mehr zum Begräbnis ihrer Schwester kommen konnte. Außerdem schien Dubrovnik von Zagreb aus am Ende der Welt zu liegen, irgendwo unterhalb des Wendekreises des Steinbocks. Schon in den letzten paar Jahren waren mein Bruder und ich die einzigen der "nördlichen" Verwandtschaft gewesen, die ihr einmal im Jahr, manchmal auch noch seltener, einen Besuch abgestattet hatten. Von einem Jahre zum anderen gab es große Veränderungen zum Schlimmeren hin. Vom Stock über den Rollstuhl bis zum bewegungslosen Liegen. Das letzte Mal, als wir sie lebend sahen, vor etwas weniger als einem Jahr, lag sie unbeweglich im Bett, ausgezehrt, starr, vermutlich auch von den Medikamenten betäubt, die man den Alten im Heim in die Adern spritzt, damit sie nicht lästig fallen und um Hilfe rufen. Sie aß wie eine Maus, nur so viel, um sich am Leben zu halten, teils aufgrund ihrer Hinfälligkeit, teils aus Mutlosigkeit, teils wegen der Medikamente, die jeden Lebensfunken in ihr zum Verlöschen brachten. Ihre dünnen Beine in den Windeln, ausgestreckt auf dem Bett mit geschwundenen Muskeln und erschlaffter Haut, sahen aus wie Hühnerflügel. Weder verstanden wir, was sie sagte, noch sagte sie etwas, was zusammenhängend klang. Nur die Augen schienen noch als einzige einen letzten Funken zu entzünden, indem sie eine unsägliche Trauer atmeten, die sich irgendwo über unseren Köpfen am Horizont verlor. Bei der Begegnung mit diesem Blick konnte es mir passieren, dass ich unkontrolliert in Weinen ausbrach. Vielleicht war das auch kein Weinen ihretwegen. Dann reckte sie mir verzweifelt ihre knöchernen Finger mit den ungeschnittenen Nägeln entgegen. Diese Geste machte mich immer ganz unruhig und bereitete mir sogar Angst. Sie erinnerte mich daran, dass wir in unserem Schneckenhaus unsäglich allein bleiben.
Bei unseren letzten Begegnungen, als sie noch auf den Beinen war, in ihrer Wohnung, in ihrem Körper und in ihrem erkennbaren Geist, beklagte sie sich unablässig über die Stadt. Sie sprach sie aus wie Stodt. Wir haben keinen einzigen normalen Loden mehr in der Stodt. Ich kann in der Stodt nirgends meine Armbanduhr reparieren lassen. Der Morkt in der Stodt ist zu einem Souvenirloden geworden. Ich finde nirgends mehr ein Bund Petersilie. Nur arancini, limunčela, kotonjate[3] in Zellophan mit Schleife, als würden wir in der Stodt davon leben. Ich kriege nirgends Blumen zu kaufen für den Friedhof. Ich kann nirgends in der Stodt meinen Montel kürzen und meinen Schoß enger machen lassen. In die Stodt kommen Cruiser größer als die Stodt selbst. Gonz bis nach Gruž[4] muss ich um Katzenfutter. Und sie fütterte eine ganze Armee. Sie kamen zu ihr auf den Balkon, der auf die orthodoxe Kirche hinaus ging. Dort war ihr kleines Paradies.
Wir setzten sie im Familiengrab auf Boninovo bei. Das Handy wurde zusammen mit ihr begraben, so wie sie es gewünscht hatte. Zuvor hatten wir noch den Bon erneuert und die Batterie aufgeladen. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wie ein großes gleißendes Loch verschlang sie das leere Meer in der Ferne. Es war Morgen, der Tag nach der Beisetzung. Mein Bruder und ich saßen in ihrer Wohnung in der Stadt. Wir hatten eine schlaflose Nacht hinter uns, in der Ströme von Menschen durch unseren Halbschlaf gewandert waren. Wir saßen in der Wohnung, die in der Zwischenzeit die Tante vergessen hatte. Schon lange war sie nicht mehr hier gewesen. Hier waren die Freunde ihrer Freunde abgestiegen und hatten ihre Sachen diskret in Schränke, Schachteln und Beutel geräumt. Die werden mein Bruder und ich irgendwo evakuieren und entsorgen müssen. Staub lag in allen Ecken der Wohnung. Spinnweben hatten sich auf den Bildern der Schiffe und Galeen angesammelt, die sie so schön gearbeitet hatte, als sie noch lebendig und gesund war. Ihre Bibliothek breitete ihre Arme umsonst zur Umarmung aus. An ihrer Stelle kehrten nur ein paar von ihren Sachen zurück, die wir aus dem Altersheim mitgebracht hatten. Eine Handtasche mit Dokumenten, ein Pyjama, ein Hausmantel, zwei Bücher mit kitschigen Umschlägen von Autoren, deren Namen ich noch nie gehört hatte und die sie vermutlich von jemandem zum Geschenk bekommen hatte, ein paar Nummern von Gloria und ein Heizstrahler. Wir ließen sie auf dem Boden neben der Couch liegen, wo sie umso beunruhigender wirkten.
Jetzt hieß es auf den Friedhof gehen und sie anrufen. Drei Mal am heutigen Tag. Mein Bruder war nervös, denn er musste das Programm für eine Firma fertigstellen und es umgehend in eine ferne Weltgegend expedieren. Das hätte er schon gestern machen sollen. Für ihn war es eine absurde Idee, sie anzurufen.
Ich setzte mich in ein nahegelegenes Café am Gundulić-Markt. Mein erstarrtes Handy lag im Schatten. Seine schwarze Oberfläche reflektierte den Himmel. Über das erloschene Display flog gerade eine Taube. Ich sah, wie sie diagonal über das Display zog, und dann auch hoch am Himmel. Ich nahm das Handy in die Hände und schaltete es ein, und der smarte Apparat verband sich automatisch mit dem Wi-Fi. Im nächsten Augenblick war es in die Adern der Stadt eingedrungen und lieferte mir Angaben zu den nahegelegenen Sehenswürdigkeiten. Visitors can take a walk along the city walls that surrounds the Old City. The walk takes a couple of hours and offers stunning views of the Dalmatia Coast and a bird’s eye view of the city. Lovrijenac Fortress is one of the sights that can be seen from the wall, it is an impressive structure built on an outcropping rock. It is located just outside the Western wall of the Old Town and was featured in Game of Thrones. Ich wandte den Blick vom Display zur realen Stadt. Eine alte Frau watschelte im rechten Winkel gebeugt am Stock von einer Mülltonne zur anderen und sammelte Plastikflaschen. Der Boden war voller Brotkrümel und Blätterteigreste. Die Tauben wechselten von einer Fassade zur anderen. Man hörte das Flattern ihrer Flügel vermischt mit dem frühmorgendlichen Brausen der Stadt. Wegen der Krümel war dieser Teil der Stadt ihr Eldorado, was bedeutete, dass er auch überall voll Taubenschiss war. Etliche hatten das Gundulić-Denkmal schon wieder frisch eingesaut. Die Container quollen über mit Kaskaden von Plastikflaschen vom Vorabend. Und wirklich, auf dem Markt selbst gab es bedeutend weniger Stände mit frischem Obst und Gemüse. Es überwogen die Souvenire. Vom violetten Stand ganz in der Nähe schlug mir in Wellen, je nach der Bewegung der Menschen, intensiver Lavendelgeruch entgegen. Eine ältere Dame erklärte einem Ausländer gestikulierend, wie er das Öl in dem kleinen Fläschchen verwenden solle. Sie zeigte ihm mit der Hand Bewegungen des Kopfmassierens bei schwerem Kopfweh. Tante hatte recht gehabt. Ich sollte jetzt hingehen und sehen, ob sie durch einen Zufall am Leben geblieben war.
Ich stapfe bergan. Ich komme am Altersheim vorüber, an dem noch immer ihre Parte klebt. Katzen balgen sich im Knäuel neben einem Müllcontainer.
Ich betrete den Friedhof. Kleine über die Steinplatten verstreute Steinchen knirschen unter meinen Füßen. Ich bleibe vor dem Familiengrab stehen, in dem meine Tante beigesetzt ist, und nehme mein Handy aus der Tasche. Ihr Bild sieht mich von der Grabplatte an. Die anderen Bilder sind längst abgefallen. Sie ist noch so jung auf diesem Bild. Das Handy hat auf dem Weg hierher schon alle möglichen Aktualisierungen vorgenommen und weiß, wo ich mich befinde. Zumindest annähernd. Es verlangt von mir eine Bewertung des Guesthouse Boninovo. Ich wurstele mich aus dem Wust von Aktualisierungen und Reklamen heraus, die sich wie die Karnickel vermehrt haben. Die Tante. Anruf. Ich warte. Es läutet. Aus meinem Handy ist zu hören, dass die Verbindung aufgebaut wird, und aus der Erde kommt ganz leise und fast unhörbar der Klang von Samsungs Klassiker Over the Horizon. Zum Glück gibt es in meiner Nähe niemanden, der Zeuge dessen wäre, was ich gerade tue. Zumindest niemand lebendigen. Die Melodie läuft ein paar Mal ab und erstirbt. Der Teilnehmer meldet sich nicht. Ich gehe weg. Der erste Wunsch ist erfüllt. Ich kann ruhigen Herzens zur Stadt zurückkehren. Eine Höllenhitze ist im Tiefstart, um unsere Körper zu attackieren und alle Lebenssäfte aus ihnen zu saugen. Es gilt den heutigen Tag zu überleben und alles genau so abzuarbeiten, wie sie es sich gewünscht hat. Damit nicht irgendwelche unbeglichenen Rechnungen mit den Toten offenbleiben. Vor dem Pile-Tor hat sich schon eine Menschenmenge gebildet. Plötzlich werde ich mit Fremdenverkehrsprospekten wie mit Konfetti überschüttet. Game of Thrones-Touren, Kajak-Touren, private tours, Konavle Valley and Sokoltown tours, fish, drinks and folk music. Ein ganzer Ameisenhaufen drängt in eine Nussschale. Duuu-brrrrrouvnik! Duuu-brrrrrouvnik!
Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.
Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.
Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...
Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.
Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.
Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur
"Und du willst nach Senj, Thilo?“
Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.