Prosa

Nada Topić: Kleine Sachen

Nada Topić wurde 1977 in Split geboren. Sie verӧffentlichte die Lyrikbӓnde „Svetac u trajektnoj luci“ („Ein Heiliger am Fӓhrendock“) (2005), „Meteorologija tijela“ („Meteorologie des Körpers“) (2015), „Bezbroj i druge jednine“ („Unzahl und andere Singulare“) (2017) und „Otac“ („Vater“) (2019); das Bilderbuch „Kako se rodila roda“ („Wie der Storch geboren wurde“) (2007); sowie den Kurzgeschichtenband „Male stvari“ („Kleine Sachen“) (2016). Sie ist außerdem die Autorin des Sachbuchs „Knjižara Morpurgo u Splitu (1860.-1947.) i razvoj kulture čitanja“ („Die Buchhandlung Morpurgo in Split 1860-1947: die Entwicklung einer Lesekultur“) (2017). Der Lyrikband „Meteorologija tijela“ kam 2015 auf die Shortlist der Literaturpreise Risto Ratković Preis und Tin Ujević Preis, die Kurzgeschichtensammlung Male stvari 2017 auf die Longlist des Kamov Preises der Kroatischen Schriftsteller Gesellschaft (HDP). Sie lebt und arbeitet in Solin.



 

Kurzgeschichten aus dem Kurzgeschichtenband „Kleine Sachen“

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof.

 

 

Das Haus

Das Haus zittert.

Jedes Mal wenn ein Zug vorbeifährt. Ich höre das Klirren des Glases im Fenster im Nordzimmer. Das betrete ich nicht mehr, weil es kalt ist und dunkel. Das Nordzimmer war früher die Küche, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. In der Wand gibt es ein Loch vom Schornstein, in dem ich alte Rasierklingen und Zeitungsbilder verstaue. Dann flüchte ich und ziehe mir die Decke über Kopf und Schultern.

 

***

 

Das Haus hat vier Zimmer, und in jedem je eine Sache.

Einen Spiegel.

Ein Messer.

Einen Umhang.

Einen Schrank.

Im Spiegel lebt ein Hund mit gelben Augen und sieht mich von morgens bis zum Dunkelwerden an. Das ist kein richtiger Hund, er ist aus Plüsch, aber ich habe genauso viel Angst. Auch wenn es Tag ist.

Das Messer kann Fleisch durchbohren. Es kann dir rote Linien auf den Armen machen. Es kann dir die Finger abtrennen, wenn du etwas anfässt, was du nicht sollst.

Der Umhang ist durchsichtig. Und hängt an der Tür. Er sieht aus wie ein Schlangenhemd.

Im Schrank lebt Vladička. Den hat sich meine Schwester ausgedacht. Und jetzt ist er dort. Er rührt sich nicht vom Fleck. Ich frage mich, was er den ganzen Tag im Schrank macht. Ich mache ihn auch nicht auf.

 

***

 

Das Haus ist nicht sicher und schwankt, wenn ein Zug vorbeifährt.

Wenn ich Angst habe, setze ich mich in den Flur und singe. Ich mag nicht allein sein in den Zimmern. Ich halte die Augen offen um nicht einzuschlafen. Ich mache mich steif und verstelle mich.

So halten wir Wache.

Der Hund im Spiegel.

Das Messer.

Der Umhang.

Vladička.

Und ich.

 

Arschbacken

Oberhalb des Hauses sind Gleise.

So ist es, seit ich weiß.

Wenn ein Zug vorbeifährt, hört man weder den Fernseher noch unsere Stimmen, aber wir reden einfach weiter, weil das für uns normal ist. Andere, die nicht neben den Gleisen wohnen, können das nicht und hören auf zu sprechen, wenn ein Zug vorbeifährt. Manche ängstigen sich, weil das Haus dann zittert, und fragen: „Was ist das, um Gottes willen?“

Es gibt den Personenzug, den Güterzug und die Arschbacken.

Arschbacken sind auch ein Güterzug, nur sind die Waggons abgerundet und sehen aus wie Arschbacken. Wenn Arschbacken vorbeifahren, laufen wir hinters Haus und brüllen: „Arschbacken, Arschbacken, Arschbacken!“ so laut wir können, damit man uns hört.

Eigentlich hört uns nur meine Mutter, die uns dann wegjagt.

 

***

 

Unterhalb des Hauses sind auch Gleise.

Andere, die zur Fabrik führen und ans Meer. Sie sind dunkel, verschmiert und riechen nach Erdöl. Im Sommer gehen wir auf den heißen Gleisen barfuß mit Handtüchern über dem Kopf. Wenn wir nicht sicher sind, dass ein Zug kommt, legen wir ein Ohr auf die Gleise, und dann hören wir ihn. Das machen auch die Indianer in den Filmen. Wir leben in der Ind. Zone, so steht es auf den Metallschildern an der Straße. Meine Mutter sagt, dass das Industriezone heißt, das stimmt aber nicht, sondern Indianerzone. Sie denkt auch, dass das Wort Arschbacke unanständig ist. Ist es aber nicht. Ich zum Beispiel werde nie böse, wenn jemand zu mir sagt: „Schieß in den Arsch“

 

***

 

M. hat große Titten und Arschbacken.

Das sagen die Männer alle und lachen. Am Wasser ist sie die einzige von den Mädchen, die ein Oberteil vom Badeanzug hat und sich hinter einer Kiefer versteckt, wenn sie ihr T-Shirt überzieht. Wenn einer von den Männern sie an ihre Arschbacke greift, schreit sie: „Kleiner, du kriegst gleich eine geschmiert!“, tut das aber nie. Ich denke, dass sie deshalb niemand für voll nimmt.

Ich habe auch ein Oberteil, aber ich lege es noch nicht an.

Meine Mutter sagt, ich brauche das nicht.

 

***

 

Im Winter gehen meine Mutter und ich an den Gleisen entlang und sammeln Korn für Korn von dem Mais, der aus den Güterwagen rinnt. Den gibt sie später den Hühnern. Wir hören mit dem Sammeln auf, wenn wir mindestens einen halben Beutel voll haben oder wenn ich sage, dass ich schon müde bin.

Wenn ich sie frage: „Was wird in den Arschbacken transportiert?“ gibt sie mir nie eine Antwort. Weil sie mich nicht für voll nimmt. Oder weil sie keine Ahnung hat, genauso wie von der Ind. Zone, nur dass sie das nicht zugeben will.

Manchmal träume ich, dass der Mais aus den Arschbacken rinnt und meine Mutter und ich ihn mit vollen Händen greifen. Wenn ich aufwache, ist auf dem Boden nichts.

Und ich finde es schade.

 

***

 

Wenn ich erwachsen bin, kaufe ich meiner Mutter eine volle Arschbacke Mais, oder noch besser einen ganzen Zug.

Und lasse ihn ausrinnen.

 

***

 

Das Oberteil mit den roten Bändern und den Perlen ziehe ich an, sobald ich ans Meer komme.

Hinter einer Kiefer.

Wie M.

Wenn mir niemand zusieht.

 

Das Meer

Das Meer ist nahe.

Man braucht nur über die Straße und die Gleise. Dann noch auf einem kleinen Pfad durch das Gras, das einem die Beine zerkratzt. Meine Beine sind voll roter Striche.

Und brennen, wenn ich hineingehe.

Ans Meer nehme ich ein Handtuch mit und trage die rosa Gummisandalen in den Händen. Die Sandalen sind fürs Meer, damit ich mich nicht steche. Im Sommer gehen wir alle barfuß.

Oder in flip-flops.

Bevor wir hineingehen, schmieren wir uns die Arme und Beine mit weißem Schlamm ein. Der weiße Schlamm kommt von dem Schlamm aus Jadrankamen. Dann nehmen wir Anlauf und springen rein, und das Meer um uns herum wird weiß.

Manchmal ist das Meer rot.

Das ist, wenn sie aus Mesopromet Blut ablassen. Einer von den Größeren sagt, dass dann im Meer Kalbsköpfe schwimmen, aber ich habe keine gesehen. Trotzdem bade ich an dem Tag nicht.

 

***

 

An beiden Seiten des Meeres sind Fabriken, und dazwischen ist Barbarinac.

Bis Barbarinac kann man schwimmen, aber das ist sehr schwer, denn es ist weit. Wenn wir herauskommen, gehen wir zuerst an die Südseite, um uns die Kräne und Schiffe anzusehen, die auf der Werft in den Himmel wachsen. Dann machen wir eine ganze Runde um die Insel. Barbarinac ist voller Kaktusse, und man kriegt die Arme und Beine voll mit Stacheln. Aber das stört keinen.

Noch schwerer ist es zurückzuschwimmen.

 

***

 

Wenn meine Mutter ans Meer geht, legt sie ihre Sachen auf die Wiese, denn die ist weich und eben. Und badet im Seichten. Sie kann schwimmen, hat aber Angst. Und guckt dauern, wo wir sind.

Wir legen die Handtücher auf die Steinplatten neben den Schiffen.

Und machen Kopfsprünge.

Oder mit den Füßen zuerst.

Wir kommen erst aus dem Wasser, wenn die Finger schrumpelig sind und die Lippen blau werden. Oder uns die Mutter ruft. Dann trocknen wir uns ab, und dann wieder hinein.

 

***

 

Das Meer glitzert, wenn wir nach Hause gehen.

Und ich drehe mich ständig um und gucke.

Ich gucke zum Meer und zu Barbarinac.

Ich gucke gut.

Wie eine Mutter.

Ich passe auf, dass es nicht untergeht.

 

Staub

Meine Mutter arbeitet in der Zementfabrik.

Sie wischt den Staub von den Arbeitstischen, den Regalen und vom Boden. Sie ist Reinmachefrau. Davor war sie Hausfrau. Sie hat dasselbe getan, aber nicht in der Fabrik, sondern in unserem Haus, im Flur, in der Küche und in den Zimmern. Das Haus war damals richtig ordentlich, und nicht wie jetzt.

Wenn sie kommt, leert sie als erstes die Körbe und fegt die Böden mit dem Besen. Dann nimmt sie ein Tuch und wischt. Und so morgens von vier bis acht. Um acht kommen die Arbeiter, dann muss sie fertig sein. Meiner Mutter sagt das zu, denn dann kann sie weggehen, obwohl die Arbeitszeit noch nicht vorbei ist.

So hat sie es abgemacht.

Manchmal sehe ich meine Mutter den ganzen Tag nicht, weil sie noch an anderen Stellen arbeitet. Wenn ich aufwache, sehe ich von zu Hause, wie aus dem Fabrikschornstein der Staub kommt, und das bedeutet, dass Mutter noch dort ist und fegt.

(Vielleicht auch nicht, aber ich stelle es mir so vor.)

 

***

 

Der Fabrikstaub ist grau und klebt sich an die Dächer. Es ist kein gewöhnlicher Staub, sondern Zementstaub. Den kann niemand abwischen, denn er hat sich verhärtet. Ich hätte gern, dass unser Dach von roter Farbe ist wie auf einigen anderen Häusern, ist es aber nicht. Unser Haus steht nahe der Fabrik und ist fertig. Das heißt, es hat eine Fassade und ein Dach. Die Fassade ist gelb mit Einsprengseln, das Dach ist grau. Mutter sagt, dass es vorher rot war und dass der Staub es zerfressen hat. Der Staub hat auch ihre Hände zerfressen, und deshalb sind sie nicht mehr so weich wie früher.

Mutter wischt jeden Tag Staub in den Fabrikbüros, ich nur samstags in unserem Zimmer. Sie sagt, dass das ein großer Unterschied ist. Wenn ich mich auf den Boden lege, sehe ich den Staub unter dem Sessel und der Couch, obwohl ich dort schon gewischt habe.

Der Staube fällt immer. Er fällt auch nachts, wenn niemand zusieht.

Aufs Dach.

Auf die Fensterläden.

Auf die Tische.

Auf den Boden.

Er fällt deshalb, damit Mutter morgens in die Fabrik staubwischen gehen kann. Nur deshalb.

Und damit sie ein Gehalt bekommt in einem Umschlag, auf dem Prvoborac steht. So heißt die Fabrik. Mama gibt mir aus dem Umschlag immer alle Münzen. Für Kaugummi.

Mich stört der Staub wirklich nicht. Und ich mag es, wenn er aus dem Schornstein kommt.

Ich stelle mir vor, dass auch meine Mutter einmal im blauen Kittel aus dem Schornstein kommt, mir mit dem Tuch zuwinkt und ruft: „Ich bin fertig!“

Nur deshalb stehe ich vor dem Haus und gucke.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
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Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

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