Prosa

Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr

Leseprobe zu: Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr / Roman / Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof / Folio Verlag, Wien / 480 Seiten
Die ehemalige Klasse eines Zagreber Gymnasiums trifft nach Jahren zusammen, um ihre Abiturfahrt zu wiederholen. Die "Tramuntana", ein Motorschiff, führt die mittlerweile Mittsechziger ein zweites Mal der dalmatinischen Küste entlang.
In zahlreichen Rückblenden erzählt die Hauptfigur, der ebenfalls an Bord befindliche Gynäkologe Tihomir Romar, seine Lebensgeschichte. Im Zentrum steht dabei die fatale Liebesbeziehung zu seiner einstigen Mitschülerin Senka, die beinahe zerstörerische Dimensionen annimmt und für drei Menschen zur Hölle auf Erden wird.
Zoran Feric zeichnet ein ironisches Sittenbild der goldenen Jugend im Tito-Jugoslawien, Abkömmlinge einer neuen privilegierten Klasse, deren Pubertät mehr von den Auswirkungen der sexuellen denn der sozialen Revolution geprägt ist. Die zweite Abiturfahrt spült alte Beziehungsgeflechte wieder hoch, vergessen geglaubte pubertäre Verhaltensmuster paaren sich mit aufkeimender Senilität.



 

Zoran Ferić

 

Das Alter kam am 23. Mai 2010 gegen 11 Uhr

 

Aus dem Kroatischen

von

Klaus Detlef Olof

 

 

Titel des Originals: Zoran Ferić, Kalendar Maja,

© der kroatischen Ausgabe: Profil Multimedija 2011

 

„Die Maya waren“, las er laut, „weit fortgeschritten in der beobachtenden Astronomie. Aber sie ahnten nichts von der Existenz des Kopernikanischen Systems“ – Er warf die Zeitung zurück aufs Bett, setzte sich vorsichtig auf den Stuhl, schlug ein Bein übers andere, verschränkte die Fingerspitzen in seltsamer Gelassenheit, mit dem Strychnin auf dem Boden neben sich. Und warum sollten sie auch? ... Das indessen, was ich liebe, sind die „unklaren“ Jahre der alten Maya. Und ihre „angeblichen Jahre“, die dürfen wir nicht übersehen! Und ihre herrlichen Bezeichnungen.

– Mac – lachte Yvonne. Hieß einer nicht Mac?

– Es gibt Yax und Zac. Und Uayeb: den liebe ich am meisten, ein Monat, der nur fünf Tage hat.

– In Beantwortung Ihres Schreibens vom ersten Zip!

– Aber wohin führt das alles am Ende?

 

Malcolm Lowry: Unter dem Vulkan

 

 

Eine glückliche Fügung

 

Das Alter kam am 23. Mai 2010, gegen 11 Uhr. Ich hatte es mir gerade in einem der Rattan-Imitate vor dem kleinen Café am Fuß der Sternwarte bequem gemacht, unterhalb dieser Einrichtung zum Zoomen der Sterne, wo sie dann von den Kindern bestaunt werden, wenn sie einen Schulausflug in die Hauptstadt machen. Ein klarer Morgen, ein später Frühling, der Duft von Kastanienlaub und Kaffee, der nur hier mit einem kleinen Bajadere-Konfekt serviert wird. Die Vorboten des Sommers werden von Tag zu Tag offenkundiger. Die Füße schlafen seltener ein, der Druck in den Nebenhöhlen ist weg, und auch die Verdauung funktioniert besser. Noch vor wenigen Jahren kam die wärmste Jahreszeit mit offenen Automobilen daher, mit dem Brummen der Motorroller, mit kurzen Röcken, mit Farbe und Bewegung, mit dem, was man nicht mehr haben, aber noch anschauen konnte und was von außen nach innen geht, in den Menschen hinein. Heute kommt sie mit dem, was aus ihm herauskommt. Ein großer kompakter Pfropf aus der Nase etwa, der, wenn er nach heldenhaftem Kampf schließlich im Taschentuch gelandet ist, Erleichterung im Bereich der linken Nebenhöhle verschafft. Oder jene zwei, drei Morgenwinde, einem linden Maestral gleich, die einen leise, aber stetig von der Blähung befreien. Und alles wäre auch in Ordnung geblieben, die Sternwarte, die Kastanien und die Wärme, selbst das koffeinfreie Wässerchen, dass ich morgens wegen meines hohen Blutdrucks schlürfe, wobei ich Duftspuren von echtem Minas-Kaffee in der Luft nachschnuppere, wäre nicht plötzlich irgendwo im Winkel meines Gesichtsfeldes, wie Schlafsand im Auge, eine elegante Dame mit hellem Haar und einer etwas aus der Mode gekommenen, aber noch immer schönen Jacke aus schwarzem Boxcalf aufgetaucht. Sie kam aus der Ballettschule und ging die Radićeva hinunter. Auch jetzt war sie noch nichts Besonderes, eine Person eben, ein Jemand auf einem Schnappschuss, der einen Moment zuvor von zwei Weitwinkelobjektiven geschossen worden war. Erst jetzt begann sich das Bild scharf zu stellen. In den Augen und im Bewusstsein. Das helle Haar, die Bob Frisur, wie sie französische Tänzerinnen tragen, der spezifische Gang der Ballerina und das bekannte Kleidungsstück. Aber gerade als ich genauer hinsehen wollte, fingerte sie aus der Tasche eine große Sonnenbrille hervor und setzte sie sich auf, so dass ich ihre Augen nicht sehen konnte. Was heißt Augen, das halbe Gesicht war verdeckt. War das tatsächlich sie? War sie nicht größer gewesen? Und schon hatte ich das Tischchen mit der Marmorplatte zurückgeschoben und kam irgendwie auf die Beine, Tässchen und Untertasse klirrten, und ich lief den kleinen Weg hinunter, der zu den Stufen an der Radićeva führt. Sie hatte nur einen kleinen Vorsprung, hatte aber ein strammes Tempo drauf und entfernte sich ziemlich rasch. Ich sah ihren Rücken in der schwarzen Jacke und die über die Schulter geworfene Tasche. Und die Haare, die im Gehen wippten. Leger, aber in Form, als wären sie Mitglieder eines gut eingespielten Tanzensembles. So ist das Haar in der Werbung für Taft oder L’Oréal. Ich stapfte hinter ihr her, die Radićeva hinunter, obwohl es mir dumm vorgekommen wäre, einfach hinzugehen und zu fragen:

– Sind Sie Senka? Ist das die Jacke, die ich vor dreißig Jahren, erfüllt von Liebe, auf Korfu erstanden habe?

Immer unentschlossener ging ich ihr nach. Eigentlich hatte ich diese kleine Verfolgung aufgenommen, weil ich für einen Moment vergessen hatte, was alles geschehen war. Hätte ich etwas überlegt, hätte ich mich aus meinem bequemen Rattansessel nicht fortbewegt, zumal die Gründe, warum man eventuell ein wenig hätte plaudern können, schon drei Jahrzehnte zurücklagen. Ich folgte ihr trotzdem bis zur Kamenita Vrata, von wo die Straße steil zum Hauptplatz hinunterführt, als mir zwei Dinge siedend heiß einfielen: dass ich meinen Kaffee nicht bezahlt hatte und dass ich, wenn ich hinunterginge, diesen Berg wieder würde hinauf keuchen müssen. Und so machte ich beim bronzenen Drachentöter Georg halt und sah ihr nach, wie sie unaufhörlich kleiner wurde, wie sie immer wieder vor den Schaufenstern stehen blieb, als wollte sie das Unvermeidliche hinauszögern, und wie sie dann weiter schrumpfte. Ich stand dort, bis die Menschenmenge am Ende der Straße sie verschluckt hatte, und machte mich dann mit müden Schritten auf den Rückweg. Das war die erste Niederlage an diesem Morgen.

Der Kellner erwartete mich auf der Straße und durchbohrte mich mit frechem Blick. Er sagte nichts, er sah mich nur an und kehrte auf die Terrasse zurück. Offensichtlich hatte er geglaubt, ich wollte mich aus dem Staub machen, ohne dieses Spülwasser von koffeinfreiem Nescafé zu bezahlen. Sehe ich etwa so aus? Wie ein Zechpreller? Ruhig sah ich über die Beleidigung hinweg und machte es mir wieder in meinem falschen Rattansessel bequem. Die Leute auf der Terrasse, ein älteres Ehepaar und zwei jüngere Mädchen, vermutlich aus der Ballettschule, schauten interessiert zu mir herüber. Offenbar hatte der Gastronomiebedienstete einen erheblichen Aufruhr veranstaltet, als er mich der Frau nachrennen sah, die so große Ähnlichkeit mit Senka hatte. Ich griff nach dem Večernji vom Nachbartisch, trank einen Schluck Kaffee, schlug die Seite mit den Todesanzeigen auf und räkelte mich in der Sonne, die durch die Kronen der alten Kastanien drang und bald auch den Turm der Sternwarte überragen würde.

Mit einem Mal bemerke ich, dass mich der Kellner herausfordernd ansieht. Ich habe die koffeinfreie Mixtur schon ausgetrunken und sitze jetzt einfach da und lese in der Kaffeehauszeitung. Ich belege einen Platz mit Beschlag. Und obwohl es freie Tische gibt, hasst mich der Kellner jetzt vermutlich doppelt. Einmal, weil er mich für einen verhinderten Zechpreller hält, und dann auch prinzipiell, nach dem Kodex seines Standes, weil ich vor einer leeren Tasse sitze. Während er zwischen den Tischen hindurchgeht und andere Bestellungen aufnimmt, wandert sein Blick immer wieder zu meinem Tisch. Zuerst sieht er mir ins Gesicht, dreist, dann auf die Zeitung, als könnte er ihr ansehen, ob sie dem Café gehört oder mir privat, und schließlich fällt der Blick anklagend auf die leere Tasse. Allerdings räumt er sie noch nicht ab. Das wäre vermutlich zu unhöflich, aber bald wird er es tun. Es ist ja klar, dass ich als frischgebackener Pensionist zu Hause störe, wenn die Frau Staub saugt, wenn der Enkel die Kolonne seiner Matchboxautos durch alle Zimmer hindurch auffahren lässt, für die noch immer die Raten bezahlt werden müssen, wenn die Tochter mit den Händen auf den Ohren für die noch verbliebenen Prüfungen lernt, aber dass ich auch hier in dem Café störe, das ist mir an diesem sonnigen Morgen, an dem ich an Senka denke, etwas völlig Neues. Der Kellner, dieser Kerl, nimmt jedenfalls gerade angewidert die Bestellung des älteren Ehepaares auf. Es ist keine Diskriminierung der Alten, so benimmt er sich auch bei Jüngeren. Die beiden Gymnasiastinnen haben ihre Portion Frechheit bereits abgekriegt. Er hält sich für besser als alle, denen er den Kaffee bringt.

Und da ist er schon, jetzt kommt er und räumt unter dem lauten Scheppern des Porzellans Tasse und Untertasse ab, fährt ein paar Mal mit dem Tuch über den Tisch, als hätte ich etwas vergossen, was ich aber nicht habe, und sagt:

– Zwölf Kuna!

Dabei mustert er provokativ den Tisch, um zu sehen, ob ich nicht irgendwie doch die glatte Oberfläche aus rötlichem Marmor besudelt habe, dann lässt er seinen Blick über der Terrasse kreisen wie eine jener Kameras im Supermarkt, die verfolgen, wenn einer klaut, und suchen, wen sie beklauen können, wenn er ehrlich das bezahlt, was er zu kaufen beabsichtigt. Deutlich gibt er den Gästen zu verstehen, dass sie verdächtig sind, aber mich sieht er nicht einmal an, als ich fünfzehn Kuna aus der Geldbörse fische und ihm in die Hand lege. Und erst als er mein Geld eingesteckt hat, wird mir klar, dass er nicht kontrolliert, wer flüchten könnte, er weiß genau, wo wer sitzt, sondern dass er den Augenkontakt vermeidet, um mir nicht die drei Kuna herausgeben zu müssen. So kann er immer sagen, er sei in Gedanken gewesen. Abgeschweift über die Terrasse und in die Gegend, aber meine drei Rentnerkuna, Wechselgeld für ein halbes Brot, hat er bei seinem Schweifen vergessen. Er hat sie als Entschädigung für ausgestandene Angst einbehalten. Er murmelt etwas wie Danke und kehrt mir den Hintern zu. Einen solchen Idioten hat Senka doch nicht verdient an diesem sonnigen Morgen, der wohl zur Gänze ihr gehören wird. Teils wegen der weit zurückliegenden Gefühlsaufwallung, die, wer weiß warum, heute Morgen erwacht ist, aber auch, weil niemand mehr da ist, dem sie noch gelten könnte. Die zu Hause sind allzu sehr da, als dass man ihnen den Tag auch noch in seinen Gedanken widmen würde. Es bleibt also Senka und wie sie mit raschem Schritt die Straße hinuntermarschiert ist. Der Körper gehorcht ihr offensichtlich noch. So wie sie aussieht, reckt und streckt sie sich vermutlich dreimal die Woche in der Kraftkammer oder beim Pilates. Und so neutralisieren dieser Frühlingsmorgen, ihre wenigen eiligen Schritte und ihr jugendlich kurz geschnittenes Haar, das den Nacken frei lässt, die Tatsache, dass sie geschrumpft ist. Denn schrumpfen tun wir zweifellos alle, wir aus der 4c des damaligen XVI. Gymnasiums, die wir in dem einen Krieg geboren und zu einem Gutteil in einem anderen pensioniert wurden, weil die Firmen für uns Versicherungszeiten nachgekauft haben. Nur um uns loszuwerden.

Die Mädchen sind schon längst zum Ballett gegangen, das ältere Ehepaar hat vor ein paar Minuten der Autobus verschluckt, der hier von Zeit zu Zeit hält, und ich sitze noch immer an dem leeren Tisch. Jetzt habe ich die Zeitung zusammengefaltet und auf den Tisch zurückgelegt und schaue nur noch umher. Die kleine Kapelle mitten auf dem Illyrischen Platz, das Mažuranić-Haus etwas weiter weg, und aus den offenen Fenstern der Ballettschule dringt angenehme Musik. Ein Menuett. Eine Musik, zu der sich junge Körper gelenkig biegen. Senka war Ballettlehrerin, und vielleicht ist das alles hier kein Zufall. Der Trottel steht am Eingang zum Café, das Aluminiumtablett nonchalant unter die Achsel geschoben, und tritt mit dem Schuh das künstliche Gras vor der Tür nieder. Offensichtlich wartet er, dass ich mich trolle. Dass ich verschwinde und sich hier statt meiner Pensionistenfigur befreiende Luft ausbreitet. Ich weiß, dass er auch gern die Zeitung abräumen würde, wenn ich sie nicht so vollgespeichelt hätte. Und während wir uns gegenseitig wie Revolverhelden beäugen, hat es sich der Gastronomiewerker bequem gemacht. Mit dem Rücken lehnt er am Türrahmen, er entlastet sein Rückgrat so, als würde er in stehender Haltung liegen und diesen Frühlingsmorgen und die angenehme Wärme ebenso genießen wie ich. „Das könnte dir so passen“, sage ich zu mir und hebe die Hand. Missmutig löst er sich vom Türrahmen und kommt langsam näher, als bereitete er sich auf ein Zuschlagen vor. Selbst das Tablett hält er wie ein Racket.

– Schenken Sie Champagner glasweise aus? – frage ich, denn ich weiß, dass sie es nicht tun. In Zagreb gibt es kein Café, Schaumwein glasweise ausgeschenkt würde.

– Nein – sagt er verächtlich und will bereits weggehen.

Aber da, ich weiß nicht, was mit mir ist, alles ist eine Sache des Augenblicks, sage ich:

– Bitte zahlen!

Jetzt sieht er mich verdutzt an. Er weiß nicht, ob ich ihn verscheißern will oder ob ich tatsächlich vergessen habe, dass ich schon bezahlt habe. Zuerst geflüchtet, ja, aber dann bezahlt. Man sieht es ihm an, er wälzt es in seinem Hirn hin und her, er hat daran zu kauen. Vielleicht ein Finanzinspektor, vielleicht eine Falle in der Maske eines jüngeren Pensionisten. Er wälzt es hin und her, und es hat tatsächlich den Anschein, als würde er ausrechnen, wie viel ein koffeinfreier Kaffee mit Milch kostet. Und dann stößt er eiskalt hervor:

– Zwölf Kuna!

Dieses Mal hole ich einen Zwanziger heraus und reiche ihm den. Er nimmt das Geld und gibt das Wechselgeld genau heraus. Noch einen Augenblick ist die Verwunderung auf seinem Gesicht zu sehen, dann geht er, aber ein wenig unsicher, ins Innere des Cafés zurück. Er denkt vielleicht, dass ich, wenn er aus meinem Gesichtsfeld verschwindet, mich nicht daran erinnere, dass ich ihm ein und denselben Kaffee zweimal bezahlt habe. Schon im nächsten Augenblick allerdings, eigentlich noch während ich ihm den Geldschein mit dem Konterfei des Banus Jelačić hinhalte, fühle ich, dass ich mich auf ein gefährliches Spiel eingelassen habe. Ich weiß weder, weshalb es gefährlich ist, noch wie sehr es das werden kann, aber dieses Gefühl in den Lungenspitzen hat mich noch nie getrogen. Und dass der Kellner sich jetzt nicht mehr blicken lässt, dass er sich dem Blick entzogen hat, auch das ist ein Symptom, dass sich die Konstellationen in diesem Café und an diesem herrlichen Morgen irgendwie geändert haben. Und fast bedauere ich, dass er nicht noch immer an den Türrahmen gelehnt dasteht und sich sonnt, als ein japanisches Paar mittleren Alters auf der Terrasse erscheint. Sie nehmen unweit von meinem Tisch im Schatten Platz. Also muss der Kellner herauskommen und die Bestellung aufnehmen. Er geht an mir vorüber wie an einer krepierten Krähe und hat den Blick, statt mich herausfordernd anzusehen, weil ich umsonst dasitze, abgekehrt. „Jetzt habe ich zumindest das Sitzen bezahlt“, denke ich

Der Damm ist gebrochen. Dieser Mensch würde mich bis zum Ende seiner Schicht für den einen Kaffee bezahlen lassen. Und sogar Überstunden machen, um weiterkassieren zu können. Als er mit der Coca-Cola für die Japaner zurückkommt, weicht er meinem Blick noch immer aus, allerdings scheint mir, dass er mit jener leichten Verachtung an mir vorübergegangen ist, wie sie manche Menschen denen gegenüber empfinden, die weniger glücklich sind als sie. Gegenüber Verrückten und Geisteskranken. Er ist einer von denen, die mich verhöhnen würden, wenn ich wirklich krank wäre. Aber ich bleibe sitzen. Ich werde noch einmal zahlen, oder zweimal. Einfach nur, um ihn in meinem tiefen Inneren zu beleidigen, obwohl mir das Spiel jetzt gefährlich zu sein scheint. Ich möchte das freche Gesicht sehen, wenn ich am Ende nonchalant, ganz nebenbei, frage:

– Bitte schön, und warum kassieren Sie hier für ein und denselben Kaffee zweimal?

Unglaublich, was für Leute es gibt. Sie sind im Stande, ihren Arbeitsplatz für ein paar Kuna zu riskieren. Ich stiere in die Zeitung, als mein Mobiltelefon klingelt.

– Hallo? – frage ich hoffnungsfroh, weil mich in letzter Zeit niemand ernsthaft anruft. Nur Tanja, damit ich ihr einen Kopf Salat vom Markt mitbringe, oder mein Enkel, damit ich ihm ein kleines Auto kaufe. Zuerst höre ich aus dem Telefon ein Krächzen und Räuspern, dann kommt das erste verständliche Wort:

– Tiho, du mich hören? Reinhard da?

Ich muss ein wenig überlegen, ich verharre in peinlichem Schweigen, doch dann setzt endlich die Erinnerung ein. Reinhard, der Kollege aus Regensburg. Wir sind im Laufe der Jahre, in denen wir miteinander zu tun hatten, richtiggehend Freunde geworden und haben eine Zeit lang mit den Familien gemeinsam Urlaub am Meer gemacht. Sie hatten einen Wohnwagen, einbetoniert auf einem Campingplatz auf Pag. Wir haben Meeräschen auf dem Grill vor dem Wohnwagen gebraten und sie mit Rotem von der Insel begossen. Reinhard ist nett. Er hat gehört, dass ich seit kurzem in Pension bin, und interessiert sich, wie es mir geht. Ob mich schon das Gefühl der Nutzlosigkeit gepackt habe, ob ich die Morgenspaziergänge genieße, wie es mit dem Sex stehe, was genau genommen eine schönere Umschreibung ist für: Was macht die Prostata? Und ich sage zu ihm: – Gepackt, wie denn auch nicht. – Ich denke an das Gefühl der Nutzlosigkeit. Aber gepackt hat mich auch die Prostata. Ich darf nicht auf Reisen gehen, wenn ich vorher auch nur ein winziges Glas von irgendwas getrunken habe, und zwischen Zagreb und Rijeka muss ich zehnmal raus zum Pinkeln, obwohl sie da eine ganz neue Autobahn gebaut haben. Im Großen und Ganzen geht es Reinhard gut, er hat eine neue Frau, die alte ist vor zwei Jahren gestorben.

– Du war auf Beerdigung – sagt er.

Ich erinnere mich, ich war beim Begräbnis in Regensburg. Reinhard sagt, er habe sich Ende letzten Sommers hervorragend amüsiert. Es hätten sich sechzehn Pensionäre, alles Schüler aus der alten Klasse des Gymnasiums, zusammengefunden, und sie hätten ihre Abschlussfahrt wiederholt. Von Triest mit dem Schiff nach Griechenland. Er erinnere sich nicht, wann im Leben er mehr Spaß gehabt habe. Und so erzählt er mir von seiner neuen Frau, die etwas jünger ist, aber nicht wesentlich, von den Enkeln, von seinem Passat, den er eingewechselt hat. Wir reden über Gott und die Welt, tauschen Pensionistenerfahrungen aus. Er zum Beispiel nimmt Klavierstunden und macht einen Japanischkurs. Er will Murakami im Original lesen. Das ist seine Pensionistenambition. Und noch ein bisschen in der Welt herumgondeln. Ich sage, dass ich mich noch zu nichts Derartigem entschlossen habe, aber dass für mich Uhren und Kalender schon sinnlos geworden sind.

– Das ist der erste Schritt, was geht in Ewigkeit – sagt Reinhard.

Kaum habe ich das Gespräch beendet, trifft mein Blick auf den des Kellners. Wieder steht er am Türrahmen und fixiert mich dreist. Wahrscheinlich scheint ihm, dass ich den einzigen Kaffee schon lange nicht mehr bezahlt habe, und das macht ihn nervös. Er ist jung, mit Gel im Haar und einem Ringelchen im Ohr, und die gestreifte Schürze an ihm sieht aus wie die embryonale Vorstufe zu einem Sträflingsanzug. Jetzt reibt der Typ auf dem völlig sauberen Tisch neben meinem herum. So einen Mistkerl, das muss ich zugeben, habe ich noch nicht gesehen. Ich warte, dass er sich entfernt, um ihn erneut herbeirufen zu können. Damit er mehr läuft. Dieses Mal kommt er, scheint’s, liebenswürdiger zu mir. Ich bestelle einen Martell, und jetzt ist sein Blick enttäuscht. Er muss gedacht haben, dass ich ihm auch das dritte Mal denselben Kaffee bezahlen will. Aber dann bringt er doch mit unlogischer Fröhlichkeit auf einem Tellerchen das Gläschen mit dem Kognak.

– Bitte sehr, der Herr!

Jetzt ist er höflich und stellt das Tellerchen mit einer Verbeugung auf den Tisch. Er hofft, dass ich auch den Martell mehrere Male bezahlen werde. Und auch die Ziffer ist größer. Aber anstatt sich zu entfernen wie bisher, bleibt er mit dem Tablett unter der Achsel neben mir stehen und wartet. Als ich ihn fragend ansehe, bleckt er die Zähne und sagt:

– Ich muss kassieren! Meine Ablöse kommt.

Was ist das jetzt? Als ich ihm den Kaffee zweimal bezahlt habe, hat er nichts im Voraus verlangt, und jetzt auf einmal heißt es: „Bitte, zahlen!“ Warum? Und während ich langsam die Geldbörse herausziehe, dämmert es mir langsam. Der Martell ist teurer, und außerdem kann jemand, der so senil ist wie ich, dass er vergessen kann, dass er schon bezahlt hat, vielleicht noch leichter vergessen, dass er nicht bezahlt hat, und sich mit seinem geschwinden Rentnerschritt vom Acker machen. Vielleicht denkt der Kamerad im embryonalen Sträflingsanzug, er habe mein Spiel durchschaut. Er tut senil, der Tagedieb, das vergessliche Individuum, zahlt zweimal denselben Kaffee, impft dem Kellner einen Schuldkomplex ein, lässt sich bezahlen für den Augenblick der Schwäche und den Anfall unschuldiger Gier, den er genau genommen selbst provoziert hat, dieser Espresso-Provokateur, dieser Polizeispitzel. Dann bestellt er einen teuren Kognak, säuft ihn aus, steht auf und verschwindet. Darf sich da ein Kellner erlauben, ihn anzuhalten und zu sagen, er habe den Martell nicht bezahlt, vor allem wenn er sich dann vielleicht erinnert, dass er für den Kaffee zweimal bezahlt hat? Und ein original Martell kostet mehr als zwei Kaffee. So denkt der Gastronomierat höchstwahrscheinlich, und deshalb sagt er auf die ganz feine Art: „Davaj, rück die Knete raus, alter Zausel!“ Logisch. So sieht er es in seiner Gaunerhaut und mit seinen Gauneraugen, mir wäre die ganze Konstruktion jedenfalls nicht im Traum eingefallen, als ich mich im Bruchteil einer Sekunde, gerade so lange wie das Eichhörnchen über mir zum Sprung braucht, entschlossen habe, aus Rache denselben Kaffee zweimal zu bezahlen. Ich habe etwas Gefährliches in Gang gesetzt und bin, ja, bin in seinen Gauneraugen vielleicht schon ein Gauner wie er: ein Gaunerrentner, ein alter Knacker, der in den umliegenden Lokalen das anständige Kellnergewerbe provoziert. Als was wird sich das Ganze am Ende noch entpuppen, was wird noch zu Tage kommen?

Und genau in dem Augenblick, als ich die dreißig Kuna für den Kognak herausziehe und überlege, ob nicht jetzt der Moment gekommen sei, jene nonchalante Frage an ihn zu richten, betritt eine sehr junge Frau mit Kindergesicht, ein mongoloides Kind an der Hand, die Terrasse. Kaum hat der Junge den Kellner erblickt, fliegt er auf ihn zu und packt ihn fest am Bein. Er umarmt es wie die Säule eines Tempels oder einen Baum im Wald. Jedenfalls wie etwas, das wir anbeten. Der Mensch in der gestreiften Schürze hat sich inzwischen niedergebeugt und das Kind aufgehoben. Er hält es im Arm und küsst es, der kleine Mongoloide schmiegt das Gesicht an seines, und so stehen sie eine Zeit lang da. In dieser kurzen Zeitspanne scheint alles stehen geblieben zu sein: die Eichhörnchen im Sprung, das Menuett aus der Ballettschule und die Menschen auf der Terrasse, alle sind erstarrt wie im Märchen.

– Gib Papa ein Küsschen – sagt die Frau und stopft dem Kleinen das T-Shirt in die Hose.

Und der kleine Mongoloide küsst seinen Papa fröhlich auf die Wange. Welch glückliche Fügung, denke ich im Stillen. Der Kleine wird nie erfahren, was für ein Mistkerl sein Vater ist. Eine Enttäuschung ist für immer vermieden.

Ich habe plötzlich darauf verzichtet, ihn irgendetwas zu fragen, ich stehe auf, spaziere an dem Vater mit dem kleinen Mongoloiden auf dem Arm vorbei und sehe hinauf zu den Kastanienwipfeln. Wieder springt ein Eichhörnchen völlig lautlos von einem Baum zum anderen, und mein Blick erhascht es im Flug. Und während ich dem Geschöpf zusehe, wie es mit buschigem Schwanz seinen Sprung steuert, kommt mir die Idee, dass auch wir aus der 4c, wir, die wir schon alle am Schrumpfen und aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im Ruhestand sind, unsere Abitursreise mit dem Schiff wiederholen könnten. Von Opatija nach Zadar. So wie im Jahre 61. Ich bin kein großer Organisator, ich gehe nicht einmal zu diesen Abenden alle fünf Jahre, aber ich stehe in Kontakt mit Jugana. Solche Sachen organisiert sie. Ich werde ihr den Floh ins Ohr setzen, vielleicht wird etwas daraus.

In der Zwischenzeit, während ich das Café, die Kastanien und den Kellner mit dem Kind auf dem Arm hinter mir lasse, wird mir langsam klar, zu was sich das Ganze ausgewachsen hat. Der Lümmel in der gestreiften Schürze hat auf meine Senilität gesetzt, seinem geschulten Auge ist vermutlich gleich klar gewesen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach vorhanden ist, die haben dieses Talent, diese Kellner, die haben das gastronomische dritte Auge, und meine Vergesslichkeit kriegt mit einem Mal auch für mich etwas Überzeugendes. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass ich mir für einen kurzen Augenblick eine zweite Jugend wünsche oder etwas Ähnliches. Das bedeutet, von nun an und in Hinkunft bin ich alt. Viel älter, als ich gestern war oder heute Morgen. Wer hätte gedacht, dass das Alter in einem Tag kommt, dass es einem von einem frechen Kellner serviert wird wie ein schaler Kaffee und dass es geschieht an der Schwelle vom Frühling zum Sommer.

 

 

ERSTER TEIL

 

Die Einschiffung

 

Wir waren einmal dreißig. Wie es Tage gibt im Monat. Jetzt sind wir noch zwölf. Und so, wie wir damals, 1961, mehr und unsere Leben kürzer waren, so sind wir jetzt, 2010, erheblich weniger, haben aber ein unvergleichlich längeres Leben hinter uns. Als würde hier eines mit etwas anderem gleichgesetzt und sich gegenseitig aufheben. Damals waren wir neunzehn, jetzt sind wir achtundsechzig. Jeder von uns trägt in diesem Augenblick drei damalige Leben in sich. Und mit diesem Gewicht dreier junger Leben, die sich in ein altes verwandelt haben, stehen diese zahlenmäßig relativ kleinen, aber gut erhaltenen Überbleibsel einer Abitursklasse aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in kleinen Gruppen oder einzeln auf dem ausgewaschenen Pflaster der Riva von Opatija. Sie stehen zerstreut in scheinbarer Unordnung, so wie Pflanzen wachsen oder Pinguine der Ruhe pflegen. Aber wenn man sich ein wenig unter diese lebenden Karyatiden begibt, die nichts halten, auch nicht den klaren Himmel über sich, sondern nur in Gruppen oder einzeln dastehen und plaudern, kann man langsam, wie wenn sich Nebel lichtet, ein gewisse Ordnung und Rollenverteilung erkennen. Gerade habe ich mich aus dem Auto herausgewurstelt und mir eilig eine Ronhill light angesteckt, als würde dieses light irgendwie die Folgen des vierzigjährigen Rauchens mildern, und werfe einen Blick auf die Kollegen unter den Greisenmasken, als wären wir beim Fasching in Samobor, und nicht im Hafen von Opatija. Sara hat aus dem Gepäckraum des Passats meinen Koffer ausgeladen.

– Papa, den lass hier beim Auto, ich geh dem Kleinen ein Cornetto kaufen!

An der noch immer offenen Tür stehend mustere ich die Gruppe auf der Riva aus der Distanz. Marijan, denn das ist er sicher, durch all die Fleisch- und Hautschichten, die sich mit den Jahren abgelagert haben, sieht das boshafte Knabengesicht von den Klassenfotos hindurch, hat eine Gruppe von Bewunderern um sich versammelt und redet heftig gestikulierend auf sie ein, während sie vor Lachen schier zu platzen scheinen. Er ist der Unterhalter. Lidija und Vera stehen an der Seite und verfolgen die sich amüsierende Gruppe aufmerksam mit den Blicken und sondern nur hin und wieder einen Kommentar ab. Sie sind die Beobachterinnen. Das waren sie auch damals, vor 50 Jahren. Jugana hingegen zieht ihre Kreise. Sie ist das Bindeglied. Sie geht von einem pensionierten Schulkollegen zum anderen und stellt ihren Sohn vor: einen mittelalterlichen Herrn, der doch tatsächlich schon völlig ergraut ist. Sie haben denselben Gang, dieselbe Körperhaltung, nur ist sie ein wenig stärker in den Schultern gebeugt und ist allem Anschein nach schon am Schrumpfen. Verwunderlich ist eigentlich, wie genau er die Bewegungen seiner Mutter wiederholt, wenn er jemandem die Hand gibt, er wirft den Kopf ein wenig zur Seite und schenkt seinen Gesprächspartnern ein trauriges Lächeln. So fließt eine Mutter wohl in ihr Kind über.

Meine Abiturspensionäre gruppieren sich wie damals in der Schule: die Populären mit den Populären, so als gelte es auch jetzt nach so viel Jahren den Unterschied zu betonen zwischen dem Klassenadel und jenen armen Waisenkindern, den Unpopulären, die ständig versucht haben, jemanden nachzumachen. Und so wie mir vor zwei Monaten, auf der Terrasse des Palainovka, geschienen hat, dass ich etwas Ernsthaftes und Gefährliches angefangen hätte, so erscheint jetzt auch diese Rückkehr in die Jugend, die vom Bewusstsein des Alters initiiert wurde, viel ernsthafter. Als wären nicht fünfzig Jahre seit jener ersten Reise vergangen, als uns auf dieser Riva, statt unserer Kinder und Enkel, Mütter und Väter verabschiedet haben.

Wir stehen umgeben von mittelalterlichen Menschen, unter denen es auch schon Witwer gibt, denn der Tod treibt gern seinen Scherz. Auf diese Weise zum Beispiel mir die Gelegenheit gebend zu sagen:

– Mein Beileid, Mislav!

Ich biete meine Anteilnahme zugleich mit meiner Hand Juganas Sohn dar, der gerade, ich weiß nicht zum wievielten Mal, seine Lebenstragödie vor einigen der Kollegen aus der Klasse seiner Mutter ausgebreitet hat.

– Kennt ihr beide euch eigentlich? – fragt Jugana.

– Ja, aber da war er noch klein, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.

Jugana stellt hier eine Art Empfangskomitee dar. Sie kurvt von Kollegen zu Kollegen, als führe sie Slalom auf einem Terrain, das jemand boshafterweise glatt geschoben hat und das nun von den Alpen bis unmittelbar zum Meer hinab reicht. Sie gibt die Hand, küsst, tauscht Liebenswürdigkeiten aus. In der Hand hält sie eine Namensliste, die mit einer Metallklammer auf einer Unterlage befestigt ist. Ähnlich jenen Metalltafeln, die am Fußende von Krankenbetten hängen und zur Aufnahme der Fieberkurven bestimmt sind. Sowie sie einen der verehrten Kollegen aufgesucht hat, streicht sie seinen Namen aus.

Und dann, irgendwoher aus dem Hintergrund, von der anderen Seite des Parkplatzes, erscheint eine kleinere, noch jugendlich wirkende Dame mit größerer Oberweite.

– Kannst mich auch ausstreichen!

Kaum hat Jugana sie bemerkt, beginnt sie schon sie zu umarmen. Sie, groß gewachsen, metallisch graues Haar, hält sie mit ihren langen Armen fast vollständig umschlungen.

– Ana, Herzchen.

Mit ihrem Namen passt Ana genauso glatt in Jugana hinein wie eine Matrjoschka in die andere. Aber so sehr sich ihre Namen auch teilweise decken, so völlig unterschiedlich sehen die beiden doch aus. Jugana groß, in die Länge gezogen, Ana klein, gedrungen, mit ausgesprochen großen Brüsten, die die Zeit irgendwie noch vergrößert hat, so als wären gerade diese beiden ballförmigen Gebilde das Reservoir, in dem sich die Jahre ablagern. Freundinnen noch vom Gymnasium her, standen sie immer in naher Verbindung. Wenn sie allerdings zusammen waren, konnte keine der beiden schön sein. Juganas Schlankheit und Größe und Anas gedrungene Erscheinung mit den ausgeprägten Rundungen, so miteinander verknüpft, waren eine Art Karikatur. Manchmal mussten sie vor einem Schaufenster oder einem Spiegel selbst über das eigene Bild lachen. Die besten Freundinnen, aber wie Figuren aus einer Komödie. Jede für sich besaß allerdings ihre eigene Anziehungskraft. Jugana eine Schönheit, die infolge Haltung und Bewegung in Würde überging, während Anas Rundungen seit je, von der ersten Klasse des Gymnasiums an, ausgesprochenen Sexappeal hatten, wobei aber auf den Körper der Puppenkopf eines Kindes gesetzt war, der auch nach fünfzig Jahren bedeutend jünger aussah als sein wahres Alter.

Juganas Sohn, dessen Frau unlängst an Krebs der Bauspeicheldrüse gestorben war, stand vor Ana, gierig nach Mitgefühl.

– Mislav! – brachte sie traurig hervor und umarmte ihn

Seine Mutter und ich standen beiseite und sahen ihnen zu, wie sie sich umarmten. Ana indessen machte hinter Mislavs Rücken ein verwundertes Gesicht und versuchte Jugana still etwas zu fragen, indem sie die Worte nur mit den Lippen formte. Die sah sie aufmerksam an und sagte dann:

– Mislav, wir haben im Auto mein Necessaire vergessen.

Der ergraute mittelalterliche Herr ließ Ana los, dreht sich zu dem Koffer um und ließ den Blick über die Riva kreisen.

– Was schaust du?

– Ich weiß nicht, mir scheint, als hätten wir es mitgenommen. Hast du es nicht getragen?

– Ich weiß nicht, Junge – flötete sie liebenswürdig – geh bitte trotzdem nachsehen.

Ich bemerkte, wie sie mit dem Fuß ein kleineres Samsonite-Necessaire hinter meine Beine schob. Und als sich Mislav endlich bequemt hatte zum Parkplatz hinüber zu watscheln und als sein trauriger Rücken schon zu kleiner zu werden begann, trat Ana zu ihrer Freundin und richtete eine leise Frage an sie. Aber Jugana zuckte nur ohnmächtig mit den Schultern und kramte, nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, wo sich ihr Sohn befand und ob er herschaute, panikartig ihr Handy aus der Tasche und drückte es Ana in die Hand. Was führen die da auf, dachte ich. Obwohl ich nur zwei Schritte entfernt stand, konnte ich nicht hören, was sie miteinander redeten.

– Ich habe es auf leise gestellt, damit es nicht klingelt, wenn er hier ist – hörte ich Jugana am Ende sagen. Es war mir unangenehm wegen dieses kleinen konspirativen Konzils, und ich machte schon Anstalten mich zu entfernen, als mich Ana am Arm fasste.

– Grüß dich, Tiho! Wir haben uns noch gar richtig begrüßt.

Während ich Ana umarmte, flüsterte sie Jugana zu:

– Da, er kommt zurück!

Ich sah, wie Mislav langsam zurücktrottete. Sein Gang wirkte älter als der von vielen hier. So als wären das einstige Kind und der künftige Greis zu einem zeitlosen Körper verschmolzen, und seine Tragödie bekam auf einmal auch etwas Komisches, als er mit einer Art Triumph in der Stimme zu seiner Mutter sagte:

– Und du hast es doch mitgenommen.

Diskret ließ ich meinen Blick über diese zwölf von Kindern und Enkeln umgebenen Apostel wandern auf der Suche nach dem hellen Kopf mit der Frisur einer französischen Tänzerin. Für einen Moment wollte mir sogar scheinen, dass ich ihn gesehen hätte. Er wurde von einer jungen Frau verdeckt, und für kurze Augenblicke sah hinter ihr nur der ins Gespräch vertiefte Kopf mit dem hellen Haar hervor. War die junge Frau Andrea? War das tatsächlich Senka? Als wir die Verabredung trafen, hatte ich Jugana kein einziges Mal gefragt, ob sie mit Senka Kontakt aufgenommen habe und ob auch sie diese Reise mitmache. Und jedes Mal, wenn wir uns hörten und wenn sie mir erzählte, mit wem sie alles gesprochen habe, hatte ich die Hoffnung, dass unter den erwähnten Namen auch ihrer sein würde. Das war nie der Fall gewesen. Nun, sie hatte mir gegenüber auch Vera und Lidija nicht erwähnt, und die waren trotzdem hier, was bedeutete, dass es noch Hoffnung gab, denn die Liste hatte sich ständig geändert. Jemand war zurückgetreten, und jemand anderer hatte sich nachträglich angemeldet. Ich machte ein paar Schritte, um besser zu sehen, und stellte fest, es war nicht Senka, sondern Alma. Sie hatten sogar jede eine Tochter gleichen Alters. Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich mir überhaupt nicht sicher war, ob das beim Palainovka tatsächlich Senka gewesen war und ob ich wirklich wusste, wie sie jetzt aussah. Von dem Augenblick an, als Jugana die Organisation dieses Ausflugs in die Hände genommen hatte, war mir auch Senka nicht mehr aus dem Sinn gegangen, aber es war mir nicht mehr so wichtig gewesen. Es stimmte zwar, dass Senka mit dieser Idee der wiederholten Abitursreise sehr viel zu tun hatte, aber genauso stimmte es, dass mir das einfach nur so eingefallen war. Unvermittelt. Wie ein Eichhörnchensprung. Und den Blick in die Höhe gerichtet, um nicht den kleinen Mongoloiden und seinen Vater zu sehen und wie sehr auch unwürdige Menschen geliebt werden können. Wenn sie käme, könnte es interessant werden, dachte ich, wenn sie nicht kommt, auch gut, wahrscheinlich werden wir uns auch ohne sie ausgezeichnet amüsieren. Aber warum bin ich jetzt, wo ich gesehen habe, dass nicht sie es ist, so enttäuscht?

– Papa, warum hast den Koffer selber getragen? – sagte Sara, die plötzlich neben mir stand.

– Deshalb weil ich keinen Bruch habe und meinen Koffer schon mein ganzes Leben lang selber trage.

Es erfolgte kein Kommentar, sie verdrehte nur die Augen, und auch Denis sah mich anklagend an. Er leckte an seinem Eis, das ihm seine Mutter gekauft hatte. Hätte ich es ihm gekauft, würde er mich nicht so ansehen. Er hatte ein Gespür für die richtige Seite. Ana, Jugana und Mislav standen noch immer neben mir.

– Das ist Sara – sagte ich – und der dort, der sich hinter ihr versteckt und seiner Mutter den Rock mit Eis vollschmiert, ist Denis.

Sara begrüßte Ana und Jugana, und als sie auch Mislav die Hand gab, sagte Ana:

– Mislav ist letztes Jahr die Frau gestorben.

Sara sagte:

– Das tut mir leid.

Mislav nahm diese Beileidsbekundung mit einem ausgeprägten Gefühl für das Zeremonielle entgegen und verneigte sich. Der Tod seiner Frau machte ihn vermutlich zum Helden des Tages, wo immer er hinkam. Denis indessen, mit seinem untrüglichen Instinkt für das Tragische oder Ungewöhnliche, kam aus seinem Versteck hervor und fixierte, noch immer am Eis leckend, den Helden des Tages mit unverhohlener Neugierde.

In nächsten Augenblick unterbrach Ana das peinliche Schweigen und rief:

– Ist das etwa Toni?

Ein großgewachsener hagerer Herr, mit vorbildlicher Glatze und in militärischer Haltung, kam auf uns zu, er zog einen Trolly hinter sich her, der auf den unebenen Steinplatten hüpfte. Ich erkannte ihn wieder, den einstigen Freund, mit dem ich neununddreißig Jahre keinen Kontakt gehabt hatte. In der Stadt waren wir einander sorgfältig aus dem Weg gegangen. In der Frankopanska, wo wir uns eine Zeit lang öfter über den Weg gelaufen waren, hatten wir jeder unsere Straßenseite: er die linke, ich die rechte. Jeder von uns hatte zu der Zeit in der Frankopanska eine Beschäftigung, deshalb waren wir auch jeder gezwungen, uns auf die eigene Seite zu schlagen. Ich war Mitarbeiter an der Medizinischen Enzyklopädie und hatte in den Räumen des Lexikografischen Instituts zu tun, und er hatte, wie mir zu Ohren gekommen war, eine Geliebte in der Frankopanska 16, zu der er regelmäßig nach Dienstschluss ging. Und da ist er und kommt gefährlich nahe, hat aber nur Augen für Ana und Jugana. Würdig wie immer, Primarius und Akademiemitglied, geht er, als hätte er einen Mastbaum verschluckt. Solchen Leuten ist das Rückgrat eine Waffe.

– Das finde ich wirklich schön, dass du es machen konntest – sagt sie zu ihm.

Es wird so sein, dass er, der Ärmste, schrecklich eingespannt war, als es um die Frage ging, ob er auch an dieser Reise teilnehmen wolle. Sicherlich Gynäkologenkongresse von Kalkutta bis Japan. Der Akademiker sah sich neugierig um, blickte in einzelne Gesichter, als würde er sie in diesem Haufen von Gesichtern im Hafen langsam wiedererkennen, dann reichte er Jugana ein zweites Mal die Hand.

– Ich gratuliere – sagte er. – Kolossal!

Jugana hörte nicht auf zu lächeln und nahm die Glückwünsche entgegen. Ich war gespannt, ob sie mich als Ideengeber erwähnen würde, zumindest ein wenig, aber das tat sie nicht. Nachdem Ana mit ihm Wangenküsse gewechselt hatte, erlaubte sie dem Akademiker auch die übrigen begrüßen, während Jugana freudestrahlend seinen Namen auf ihrem Fieberblatt ausstrich. Toni gehörte in jedem Fall zu den Populären.

Noch immer irrte mein Blick durch den Hafen auf und ab auf der Suche nach der hellen Frisur der französischen Tänzerin, wobei sich mir von Zeit zu Zeit ironischerweise mein Enkel ins Blickfeld schob, der sich endlich von den Rockschößen seiner Mutter gelöst und ein Mädchen seines Alters gefunden hatte, Marijans Enkelin, und mit ihr herumrannte.

Ich zündete mir eine Zigarette an, und Denis, der sich plötzlich in meiner Nähe eingefunden hatte, sagte:

– Mama, Opa raucht wieder, er wird Krebs kriegen, und dann müssen wir ihn in der Erde begraben.

Und dann geschah etwas wirklich Merkwürdiges. Von der anderen Seite des Parkplatzes, hinter dem Gebäude der früheren Hafenkommandantur hervor, kam ein Mann mit schmalem Gesicht und kurzem schwarzen Haar, das nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen war. Das ist Roman, dachte ich für einen Moment. Es sah indessen so aus, als würde er sich vor jemandem verstecken. Alles erschien mir normal, bis ich Juganas erschrockenes Gesicht sah und Ana, die geschockt die Hand vor den Mund hielt. Die Sache war die, dass Roman schon seit zwanzig Jahren tot war, und dass der Mann, mit dem ich ihn verwechselt hatte, genau in dem Augenblick aufgetaucht war, als ich mir die Zigarette angezündet hatte. Genau wie damals, als wir uns kennen lernten.

 

(…)

 

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Berichte

Museum der zerbrochenen Beziehungen

Ein Museum in Zagreb zeigt, was von der Liebe übrig blieb.

Berichte

Lumbarda: Ein modernes Reiseziel mit antiken Wurzeln

Nur wenige Kilometer von der Stadt Korčula entfernt, am östlichen Ufer der gleichnamigen Insel, liegt das Dorf Lumbarda. Vor mehr als zweitausend Jahren war Lumbarda eine Gemeinde der griechischen Kolonie der Insel Vis.
Im Jahr 1877 entdeckten Archäologen in Lumbarda eine antike Steinschnitzerei, das als Lumbarda-Psephisma bekannt wurde.

Rezensionen

Miroslav Krležas Werk im lichte der Französischen Kritik

Bisher wurden sechs Werke Miroslav Krležas ins Französische übersetzt, und zwar: „Beisetzung in Theresienburg“ (Novellen, Edition de Minuit, in der Übersetzung von Antun Polanšćak mit einem Vorwort von Léon Pierre Quint, Paris 1956), „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ (Roman, herausgegeben von Calman, Lévy, in der Übersetzung von Mila Đorđević und Clara Malraux, Paris 1957), „Das Bankett von Blitwien“ (Roman, herausgegeben von Calman-Lévy, in der Übersetzung von Mauricette Beguitch, Paris 1964). „Ohne mich“ (Roman, Edition De Seuil, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1969), „Der kroatische Gott Mars“ (Novellen, herausgegeben von Calman-Lévy, übersetzt von Janine Matillon und Antun Polansćak, Paris 1971). „Die Balladen des Petrica Kerempuch“ (Edition Presse Orientales de France, übersetzt von Janine Matillon, Paris 1975).
Sie alle haben eine warme Aufnahme gefunden. Wir bringen hier einige Auszüge aus Rezensionen (Maurice Nadeau, Léon Pierre Quint, Claude Roy, Marcel Schneider und andere), die das Werk Krležas auf jeweils verschiedene Art und Weise beleuchten.
Maurice Nadeau widmet (u. d. T. „Ein großer jugoslavischer Schriftsteller“) im „France Observateur“ vom 20. Juni 1956 eine ganze Seite dem Erscheinen der Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“. Daraus einige charakteristische Passagen: Für viele wird die Novellensammlung „Beisetzung in Theresienburg“ zu einer wirklichen Offenbarung werden...

Der Text ist ursprünglich in der Literaturzeitschrift Most/The Bridge (Heft 3-4, 1979) erschienen.

Berichte

Das Bild der Deutschen in der neuen kroatischen Literatur

Modernisierer, Kollaborateure, Faschisten: Die Geschichte und die Wahrnehmung der Balkandeutschen ist vielfältig und bis heute mit Tabus belegt. In den letzten Jahren sind sie jedoch zum Thema der kroatischen Literatur geworden.

Von Martin Sander und Ksenija Cvetković-Sander / Deutschlandfunk kultur

Berichte

Was willst du in Senj, Thilo?

"Und du willst nach Senj, Thilo?“

Ja. Ich wollte trotz des touristischen Überangebot Kroatiens jene Stadt sehen, in die der von den Nazis verfolgte Kurt Held und seine Frau Lisa Tetzner 1940 kamen und Inspiration zum Verfassen der „Roten Zora“ erhielten.

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